Das verborgene Wort
Wiese, wo ich mit meinem Heftchen saß, als die Reifen knirschten; erst vor kurzem hatte man die lehmige Straße mit Split bestreut. Ich sprang hoch und riß mit leichter Verbeugung vor dem Vater das Gartentor auf, wie ein Schauspieler, der an die Rampe tritt: >So seid Ihr es denn ganz und gar, mein Vater?< >Mein Vater<, sagte ich. Zum ersten Mal: >Mein Vater<. Zu diesem Mann, der müde, hungrig, verschwitzt, im verschmierten Drillich aus der Fabrik kam. >So seid Ihr es denn ganz und gar, mein Vater?< Wegen des verkürzten Beines konnte er nur mühsam absteigen.
Zwischen Tür und Angel hielt >mein Vater< inne, und ich sprach weiter. Mit meiner schönsten Aussprache und der besten Betonung, Herzklopfen wie in der Schule nie. >Ich glaubt, Ihr hättet Eure Stimme nur vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge, für Wüsten, was für Ströme trennen uns denn noch?<
Mit zusammengezogenen Augenbrauen, malmendem Kiefer hörte der Vater zu: >Ihr atmet Wand an Wand mit ihr und eilt nicht, Eure Hilla zu umarmen? Die arme Hilla, die indes verbrannte! Fast, fast verbrannte. Fast nur. Schaudert nicht! Es ist ein garstiger Tod, verbrennen. Oh. Ihr müßtet übern Euphrat, Tigris, Jordan.. .<
Josäff!
Polternd fiel der eisenbeschlagene Holzdeckel auf den Rand der Regentonne. Die Mutter. Wir schraken zusammen, zwei Ertappte. Ich hatte >mein Vater< gesagt, und der Vater hatte mir zugehört, länger als jemals zuvor. Nicht nur mir, auch Recha und Lessing, aber die Worte waren doch aus meinem Mund gekommen, in seine Ohren gedrungen. >Mein Kind. Mein liebes Kind<, sagt Nathan zu Recha. Esch ben mööd, Kenk, sagte der Vater zu mir. Sekundenlang blickten seine Augen in meine, ehe die scharfe Falte zwischen den Brauen seinen Blick wieder vor mir verbarg. Schutzlos und wehrlos, preisgegeben, beinah hilfsbedürftig hatte dieses Esch ben mööd geklungen. Hatte dieser Vater nicht auch gesagt: >Mein Kind. Mein liebes Kind?< Nur in einer anderen Sprache?
Hör zu, Hanni, sagte ich. Hör einfach zu. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung schlug ich das Heftchen auf. Dort, wo Nathan im dritten Akt Saladin die Geschichte vom Vater, den drei
Söhnen und dem einen Ring erzählt, fiel es schon von selbst auseinander.
E Täßje Kaffee? fragte die Mutter. Wir nickten.
Maria, bes de doheem? schallte eine Stimme aus dem Hof. Jul- chen, die Nachbarin, kam mit einem Küchenblech durch die offene Hintertür. Sie hatte Pflaumenkuchen gebacken und brachte eine Hälfte zu uns. Die Mutter schob Julchen eine Tasse rüber. Von Kackallers Katti, sie kriege schon wieder ein Kind, war die Rede, von Haases, bei dem die Brötchen immer teurer wurden, von Pütz Mariesche, dessen rechte Brust jetzt auch noch fällig sei.
Nu seid emal ruhisch, platzte Hanni dazwischen. Dat Hilla wollte mir jerade wat vorlesen. Wat Wischtijes.
Julchen setzte verdutzt die Kaffeetasse auf das Wachstuch, daß es schwappte. Und schwieg. Die Mutter seufzte ergeben und faltete die Hände im Schoß. Jetzt würde sich erweisen, was Lessing wert war.
>Vor grauen Jahren lebt'ein Mann im Ostens begann ich.
Aid widder Flüschtlingskrom, murrte Julchen und erhob sich. Esch muß heem.
>Der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaßt
Julchen setzte sich wieder. Die Geschichte schien spannender zu werden, als man es von einer, die op de Meddelscholl ging, erwarten konnte.
>Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, daß ihn der Mann im Osten darum nie vom Finger ließ.<
Julchen grinste und nickte.
>Und die Verfügung traf, auf ewig ihn bei seinem Hause zu erhalten. Nämlich so.<
Hier machte ich eine Pause, und die Mutter setzte sich gerade wie in der Kirchenbank.
>Er ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, daß dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebste sei; und stets der liebste, ohn Ansehn der Geburt, in Kraft allein des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.<
Hanni schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren, sagte aber nichts. Die Mutter war wieder zusammengesunken und blickte mürrisch in ihren Schoß, Julchen hatte sich hoch aufgereckt und ruckte ihren Kopf hämisch in die Runde. Weiter, sagte Hanni.
>So kam nun dieser Ring von Sohn zu Sohn auf einen Vater endlich von drei Söhnen, die alle drei ihm gleich gehorsam waren, die alle drei er folglich
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