Das verborgene Wort
gleich zu lieben sich nicht verbieten konnte.< >Entbieten<, wie es bei Lessing hieß, hatte uns Fräulein Abendgold erst erklären müssen, also ersetzte ich es besser gleich. Auch kam mir der geliebte Text, wie ich ihn jetzt vor meinen Zuhörerinnen Zeile für Zeile entrollte, viel länger als in der Schule vor. Sprach ich ihn für mich, konnte ich von seinem verläßlichen Rhythmus, dem Zusammenspiel von Sinn und Klang gar nicht genug kriegen. Vielleicht, dachte ich, hätte ich die Geschichte besser kurz und knapp auf den Punkt gebracht. Aber Hanni hörte mir gespannt zu, und als der Vater >dann zum Sterben kann, war auch die Mutter wieder bei der Sache. Geschichten vom Sterben hörte sie nur zu gern. Julchen hielt die Augen geschlossen und hatte ihr Gesicht dem Kruzifix zugewandt. Ich ließ Lessing weitererzählen, vom Künstler, der die beiden Ersatzringe schmiedet, so vollkommen gleich dem Original, daß, >da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden insbesondre; gibt jedem insbesondre seinen Segen und seinen Ring - und stirbt -.<
Die Mutter seufzte, nickte und schlug ein Kreuzzeichen. Julchen war der Hinterkopf auf die Stuhllehne gesunken, ihrem weit offenen Mund entfuhr von Zeit zu Zeit ein entspanntes Schnarchen. Hanni sah mich noch immer verständnislos an. Ich aber wurde, Lessings Ziel so nah vor Augen, meiner Sache immer sicherer, überschlug das Hin und Her zwischen Nathan und Saladin, kam gleich zum Schiedsspruch des Richters und schmetterte endlich: >Wohlan!<
Mit einem rauhen Kehllaut fuhr Julchen hoch, die Mutter nahm wieder Haltung an.
>Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des
Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hülf! Und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: so lad ich über tausend tausend Jahre, sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich und sprechen. Geht!<
Ich hatte das letzte Wort mit geballter Kraft hervorgestoßen. Die Nachbarin schrak hoch, ergriff ihr Backblech und machte sich, samt einem noch beachtlichen Streifen Pflaumenkuchen, davon. War dies nun Lessings Niederlage oder Sieg?
Die Mutter seufzte wieder und rekelte sich. Nä, nä, sagte sie. Noch ene Kaffee?
Nä, Tante, sagte Hanni. Sie hatte verstanden.
Esch jank ens noh de Höhner Iure, [44] sagte die Mutter.
Dä Lessing hät rescht, sagte Hanni. Keener es besser als der andere. Op de nu katholisch bes oder evanjelisch. Mer muß ne joode Minsch sin. Nur dorop kütt et an. >De Haupsach es, et Häz es jut, nur dorop kütt et an.< Jenau, sagte ich, und wir schauten uns an, sangen das Karnevalsliedchen wie aus einem Munde und lachten, bis uns die Tränen die Backen herunterliefen.
Jenau. Wiederholte ich. Und dat erzählst du jetzt dem Pastur. Du liest dem dat vor. So wie ich dir. Und dann wollen wir doch mal sehen, was der Kreuzkamp sagt.
Meens de? fragte Hanni.
Jawohl, sagte ich: >Der rechte Ring war nicht erweisliche Isch schreib et dir bis morjen ab.
Was zu sehr vom Kern der Sache ablenkte, ließ ich weg, unterstrich dafür die Zeilen, auf die es mir ankam, doppelt mit dem Lineal. Wörter wie >Tyrannei< und >Opal< versah ich, um dem Pastor das Verständnis der Dichtung zu erleichtern, mit Erklärungen, in Klammern gesetzt, wie es uns Fräulein Abendgold beigebracht hatte. Das letzte Wort, >Geht!<, das auf Julchen eine so direkte Wirkung gehabt hatte, verstärkte ich mit einem Amen. In großen Druckbuchstaben.
Als ich Hanni anderntags das Heft überreichte, zog diese, ohne auf meinen verschämten, halbherzigen Protest zu achten, ihr Portemonnaie. Un wenn et klappt, krieschst du noch eins! Hanni schüttelte mir die Hand wie einer erwachsenen Person und preßte mir das Markstück nicht, wie die Rüppricher Tante oder der falsche Großvater, verstohlen in die Hand, sondern legte es mit Nachdruck auf das Wachstuch vom Küchentisch, wie auf die Theke in Piepers Laden.
Noch am selben Abend ging Hanni zu Pastor Kreuzkamp. Er hät nit nä jesäät, flüsterte sie mir am Tag darauf zu. Heut abend jibt er mir Bescheid. Er sagt, er kennt den Lessing.
Mißtrauisch sah die Mutter zu uns hinüber. Hanni kam nun schon den dritten Tag, angeblich, um zu sehen, ob die
Weitere Kostenlose Bücher