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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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selbst besaß nur wenige Platten. Manchmal tanzten wir miteinander. Ich reichte der erwachsenen Frau bis knapp über den Busen, den ich manchmal mit der Stirn berührte. Hanni roch zu jeder Jahreszeit anders, am liebsten mochte ich ihren Geruch im Sommer, wenn sie frisch gebügelte Baumwollkleider trug und nach Hofmanns-Stärke und warmem Brot duftete.
    Heute hatte der Cousin aus Wipperfeld sein Plattenalbum mitgebracht. Oh, lä, lä!, Paris, kicherte die Cousine aus Miesberg, deren Haar von einer Familienfeier zur anderen blonder wurde, und zupfte eine Platte aus der Hülle, die eine nackte Frau mit Sternen an drei Körperstellen zeigte. Hanni riß ihr die Platte aus der Hand. Nix Paris, rüffelte sie die Verwandte, dafür es dat Hilla noch ze kleen.
    Mit Birgit und ein paar Mädchen und Jungen aus meiner alten Volksschulklasse war ich vor Wochen am Rhein herumgestrolcht. Irgendwann waren die Jungen ein Stück zurückgeblieben und dann johlend wieder aufgetaucht. In der Hand ein Schilfrohr oder Weidenstöckchen, an denen drei, vier schlaffe gelblich weiße, etwa mannsdaumengroße Gummifingerlinge bau-melten, waren sie mit grotesken Sprüngen auf uns zugejagt. Hatten ihre Stöcke geschleudert, daß die Fingerlinge knallten, und dazu Pick, pick, pick geschrien wie die Großmutter beim Hühnerfüttern. Wir Mädchen rannten kreischend davon. Die Jungen blieben stehen. Helmi aber, ein Jahr älter als wir und mit Buckeln unter der Bluse, rief ihnen etwas zu wie Pick desch sälver, worauf diese sich erneut gummipeitschend in Bewegung setzten. Dieses Spiel hatte sich einige Male wiederholt, bis die Jungen auf der Höhe des Fußballplatzes schließlich abzogen. Da plötzlich sah ich diese Gummischläuche zuhauf, von den Wellen ans Ufer gespült, zwischen den Kieseln, meist in der Spitze, ähnlich einem Schnullerzipfel, mit Schleim gefüllt. Ekel, Neugier, Verbotenes hatte ich angesichts dieses Dinges gespürt, das Helmi >Pariser< nannte. Man bekomme damit keine Kinder, wenn man >es< tat, sagte sie. Über >es< tun zu sprechen war tabu. Keine wollte zugeben, nicht zu wissen, wie >es< ging. Wie in einem Rausch trugen wir an diesem Nachmittag Fingerlinge zusammen, als kämen wir so dem Geheimnis des Erwachsenseins auf die Spur. Birgit mutmaßte, man müsse die Dinger lutschen, während man >es< tat, in manchen hänge ja noch die Spucke. Wir brachen in ein Gelächter aus, erlöst, befreit, als wären wir noch einmal davongekommen. Was immer mit dem Wort >Paris< zu tun hatte, war mir für Jahre verleidet.
    Such dir eine aus, sagte Hanni zu mir, und ich durfte die Platte selbst auflegen und auf den Knopf drücken, der die Abspielnadel in Bewegung setzte.
    >Am Rio Negro, da steht ein kleines, verträumtes Haus<, sang eine Frau. >Da sieht am Abend ein schönes Mädchen zum Fenster raus.< Ferdi stand auf und ging vom Couchtisch, wo die Männer saßen und rauchten, quer durch den Raum bis ans Fenster zu den Mädchen und verbeugte sich. Vor mir. Nit esu laut, schrie die Tante und warf die Tür zu. Auf Zehenspitzen reichte ich Ferdi fast bis an den Schlipsknoten, in dem eine Perle steckte. So nah war ich einem Mann noch nie gekommen. Der Vater umarmte nicht. Onkel oder Cousins erst recht nicht. Ein süßlich scharfer Geruch ging von Ferdi aus, und seine Ohrläppchen hingen aus dem scharf rasierten Haar weich und hilflos wie zwei Babydaumen.
    >Hell rauscht der Fluß vorbei<, sang die Frau, >und flüstert wie vor tausend Jahren verliebte Lieder, drum kehr ich immer, immer wieder zum Rio Negro im Mai, wir zwei, im Mai.<
    Kürzlich hatte ich im Kino die Bewegungen einer OP-Schwe- ster studiert, die sich auf einer Geburtstagsfeier tanzend an ihren Chefarzt schmiegte, den sie liebte, was alle wußten, nur sie selber nicht. Meine Brust in Ferdis Magengegend, >am Rio Negro wir zwei, im Mai<, bis Hanni: Damenwahl! rief und mir Ferdi, der mich noch einmal herumwirbelte, aus den Armen nahm. Bisher war Ferdi für mich der Beweis des Nutzens der Bücher für das Leben gewesen, Bücher, die sich ins Leben verlängert hatten, ein Geschöpf Lessings. Jetzt, >am Rio Negro wir zwei, im Mai<, war das Wort Fleisch geworden. Ferdi ein Geschöpf aus Fleisch und Blut. Ein Mann. Mir gefiel, wie sein Brustkasten brummte, wenn er die Geigen des Orchesters auf der Platte untermalte, gefielen seine weißen, weichen, unversehrten Hände mit den Fingernägeln, die wie die Perlmuttknöpfe meiner besten Bluse schimmerten, gefiel, daß er Müpp und evangelisch, also

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