Das verbotene Glück der anderen
mit einem nicht zu entziffernden Blick.
«Das erinnert mich an einen alten Fall. Eigentlich nicht ganz so alt. Noch ein klassischer Fall von Zweierwahn. Soll ich davon erzählen?»
«Ja, unbedingt, ich bitte darum.»
«Ich weiß, dass Sie das interessiert, Ousep. Es handelt sich um zwei Brüder, Zwillinge. Keine eineiigen, sondern zweieiige Zwillinge. Als ich sie das erste Mal traf, waren sie im späten Teenageralter, also dem Alter, in dem Jungen so etwas passiert. Die Pubertät ist für philosophisch interessierte junge Männer eine sehr gefährliche Zeit. Die Brüder waren Cartoonisten, sehr gute Cartoonisten. Sie zeigten mir ihre Comics. Sie handelten von mächtigen Superbösewichtern, die mit Underdog-Superhelden kämpfen. Warum das kein bisschen überraschend ist, verstehen Sie gleich. Ich weiß nicht mehr, wie die Jungen hießen, aber ich weiß noch, wie sie sich gegenseitig nannten – Alpha und Beta.
Alpha war schizophren. Er glaubte, die ersten Menschen seienim Trancezustand einer großartigen Vision gewesen, die jetzt verloren ist. Er glaubt bis heute, dass ein paar Menschen rein zufällig diese Urvision sehen, die ohne Denken auskommt und das gesamte Universum in seiner grenzenlosen Schönheit sichtbar macht. Die anderen, fast die ganze Menschheit, sind unterdessen gefangen in dem, was man gemeinhin als die menschliche Natur betrachtet. An manchen Tagen hörte Alpha Stimmen, Stimmen von Leuten aus dem Altertum, die die großartige Halluzination gesehen haben und ihm als Führer dienen und ihn auffordern, sich tagelang im Zimmer einzuschließen und zu meditieren, als Vorbereitung auf das, was sie einst sahen. Alpha gab seine Wahnvorstellung an Beta weiter. Beta war nicht völlig normal, aber als Arzt würde ich ihn nicht als schizophren diagnostizieren. Unter dem Einfluss von Alpha fing er jedoch an, an die Vision zu glauben. Ein paar Tage lang hatte auch er Visionen und hörte Stimmen. Die Jungen brachen das College ab und fingen an, sich merkwürdig zu benehmen. Ihr Vater zwang sie, zu mir zu gehen.
Die Jungen mochten mich nicht besonders. Sie dachten, ich stünde mit dunklen Mächten im Bunde, sie dachten, ich hätte die Absicht, Menschen wie sie zu brandmarken und einzusperren. Sie weigerten sich, zu mir zu kommen, doch ihr Vater zwang sie immer wieder dazu. Eines Tages kam Alpha in dieses Zimmer hier, nahm einen Briefbeschwerer und warf ihn nach mir. Glücklicherweise traf er mich nicht. Doch dann packte er mich am Kragen und schüttelte mich, als würde die Wahrheit dadurch aus meinen Ohren schwappen. Ich brüllte wie verrückt. Die Peons kamen und retteten mich.»
«Wann war das, Doktor?»
«Vor etwa drei Jahren.»
«War das Ihre letzte Begegnung mit Alpha? Am Tag, an dem er Sie angriff?»
«Ja, das war die letzte Begegnung mit ihm. Doch ein paar Wochen später geschah etwas Interessantes. Alpha ließ mir durch einen Freund eine Nachricht schicken.»
Iyengar macht die Schreibtischschublade auf und nimmt eine Mappe heraus, in der handgeschriebene Briefe, kurze gedruckte Notizen, ärztliche Atteste und vergilbte Seiten aus Sanskritbüchern sind. Er nimmt ein Blatt Papier aus der Mappe und gibt es Ousep. «Das hat Alpha mir geschickt», sagt er.
Auf dem Blatt ist eine brillante Karikatur von Iyengar. Am unteren Bildrand steht eine kurze Nachricht: «Es tut mir leid.» Unterschrieben ist es mit «Alpha». Doch der Stil der Karikatur verweist eindeutig auf Unni. Unnis Karikaturen sind nüchterne Porträts, er überzeichnete keinen Teil des Gesichts, wahrte alle Aspekte und versuchte nicht, humoristisch zu sein. So, als habe er das menschliche Gesicht witzig genug gefunden und sich deshalb keine große Mühe gegeben. Das Papier hat dieselbe Qualität, Dichte und Farbe wie das von Unnis Notizbüchern. Außerdem scheint Alpha nach allem, was Ousep von ihm weiß, nicht zu der Sorte Mensch zu gehören, die Wert darauf legen, sich zu entschuldigen. Höchstwahrscheinlich war Unni der Bote, und die Nachricht stammte von ihm.
Iyengar stellt eine überraschende Frage: «Glauben Sie, dass Alpha das Bild gezeichnet hat?» Ousep beschließt, nichts zu sagen. Ihm ist klar, dass er das Gespräch nicht mehr unter Kontrolle hat und vielleicht nie unter Kontrolle hatte.
«Der Freund, den Alpha schickte, war ein Cartoonist», sagt Iyengar. Er streckt die Hand nach dem Bild aus, nimmt es an sich und legt es sorgfältig zurück in die Mappe. «Den Namen des Jungen habe ich vergessen, aber ich erinnere mich gut
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