Das verbotene Glück der anderen
das denke, fühl ich diesen Kummer in der Kehle, der wird zu einem Kloß, undweißt du, Unni, eigentlich gefällt mir das richtig. Ich mag den Schmerz in meiner Kehle, die Tränen, die mir aus den Augen fließen. Wenn mich jemand dabei sieht, denkt er vielleicht, ich leide. Aber ich genieße das Ganze auch.»
«Thoma, du bist wirklich ganz anders als die anderen.»
«Ich bin ein Mutant.»
«Nein. Was du mir gerade erzählt hast, macht dich zu jemandem, der absolut einzigartig ist. Die meisten gehen durchs Leben und wissen nicht, was an ihnen Besonderes ist. Du jedoch hast es schon in ganz jungen Jahren herausgefunden. Dieses Gefühl, von dem du mir gerade erzählt hast, hat sonst keiner, Thoma.»
«Weißt du, wie man es nennen könnte? Ich möchte, dass es einen Namen hat. Alle sollen wissen, dass es dieses Gefühl gibt.»
«Nur das Oxford Dictionary darf über neue Wörter entscheiden, Thoma.»
Unni ging zum Telefon und wählte. «Ist dort die Oxford Dictionary GmbH?», fragte Unni. «Ich möchte bitte mit dem Herausgeber sprechen … Guten Morgen, Sir. Mein Bruder Thoma Chacko hat soeben ein Gefühl entdeckt, das nur er kennt …»
Thoma war so aufgeregt, dass er auf der Stelle trippelte und mit der Hand wedelte, um Unni auf sich aufmerksam zu machen.
«Was ist denn, Thoma?»
«Sag ihm, dass ich auf die St.-Ignatius-Schule gehe.»
Unni sagte in den Telefonhörer: «Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Sir. Aber mein Bruder Thoma Chacko, der auf die St. Ignatius High School für Jungen geht, hat, wie gesagt, ein einzigartiges Gefühl entdeckt, das nur er hat. Er schlägt vor, dass ein Wort dafür erfunden wird. Ja … ja, natürlich. Es geht darum, dass er an manchen Tagen einen Kummer in der Kehle spürt, der sich wie ein Kloß anfühlt, und das genießt er dann.»
Wochen später brachte Unni ihm die nagelneue, noch in Plastikeingeschweißte Taschenbuchausgabe des Oxford Dictionary. Unni packte es aus und zeigte ihm das Wort «Selbstmitleid».
«Dieses Wort wurde eigens für dich kreiert, Thoma.»
Thoma nahm das Wörterbuch nervös in die Hand, und als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, ergriff ihn ein Schaudern. Er hatte ein englisches Wort erschaffen, auch wenn es aus zwei Wörtern bestand, die es bereits gab.
«Sie haben meinen Namen gar nicht erwähnt», sagte er.
«Die Namen werden nie erwähnt, Thoma.»
«Und wieso nicht?»
«Das ist nun einmal so.»
Thoma ist kein Kind mehr, er weiß jetzt, was Unni mit ihm gemacht hat, und trotzdem erinnert er sich noch, wie aufregend dieser Tag war – ein beglückender Duft erinnert ihn daran.
Wahrscheinlich ist seine Mutter nervös. «Warum brauchen sie so lange, um die Haustür aufzumachen?», sagt sie.
«Du musst erst klingeln», sagt Thoma.
«Hab ich nicht geklingelt?»
«Nein.»
Sie fängt an, laut zu lachen, und das brachte auch ihn zum Lachen.
Mythilis Mutter öffnet die Tür, und die Überraschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ohne es zu merken, macht sie die Tür langsam wieder zu. Sie starrt Thoma und seine Mutter mürrisch an, was, wenn sie so weitermacht, für die beiden beschämend ist. Gerade noch rechtzeitig ringt sie sich zu einem Lächeln durch. «Kommen Sie herein», sagt sie, weicht aber nur einen halben Meter zurück und hält die Tür weiter fest. Mariamma stellt einen Fuß in die Tür, der andere Fuß bleibt draußen. Die Tür ist nur halb geöffnet, und Thoma kann keinesfalls in die Wohnung eintreten.
«Er trinkt gerade seinen Kaffee», sagt Mythilis Mutter. Wenn sie«er» sagt, bezieht sich das immer auf Mythilis’ Vater, der in der Diele sitzt und seinen Angelegenheiten nachgeht. Mythili sitzt neben ihm auf dem Sofa. Sie trägt ein ärmelloses rosafarbenes Oberteil, das ihr bis zu den Knien geht, und hält ihre nackten Beine dicht beieinander. Darauf achtet sie genau. Feminin war sie schon immer, sogar, als sie noch klein war. Manche Mädchen sitzen unachtsam da. Ihnen ist nicht klar, dass die Jungen, besonders die älteren, immer nach ihrer «Lücke» Ausschau halten. Mythili weiß das bestimmt, sie ist äußerst klug.
Doch momentan sieht sie ein wenig nackt aus. Nicht nur wegen der Beine, Thoma kann auch fast alles von ihren Schultern und Armen sehen. So läuft sie nur in der Wohnung herum. Wenn sie auf den vorderen Balkon gehen will, muss sie sich etwas anderes anziehen und die Haare zu einem Pferdeschwanz binden. Der Gedanke, dass Mythili Regeln befolgen muss, gefällt Thoma. Er stellt sich
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