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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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ist es seltsam, dass sie nur ein Kind haben und nicht zwei.
    Mit dem ausdruckslosen Blick angefochtener Autorität steht der Vater des Mädchens mitten im Zimmer. Er zeigt auf einen Stuhl, und dann richtet er den Finger auf seine Frau, die daraufhin verschwindet. Wie einfach es manche Männer doch haben. Nun weist der Mann Mythili einen Stuhl zu. Sie setzt sich, und Ouseps Blicke ruhen auf ihrem schlanken Körper. Im harten Gesicht ihres Vaters zeigt sich ganz kurz seine Niederlage. Er setzt sich aufs Ledersofa und wartet. Eine Weile sagt niemand ein Wort.
    «Sie arbeiten bei der State Bank?», fragt Ousep.
    Der Mann nickt.
    «Kann ich Ihrer Tochter ein paar Fragen über Unni stellen?», fragt Ousep.
    Der Mann nickt wieder.
    Zum ersten Mal erzählt nun ein junges Mädchen Ousep ihre Erinnerungen an Unni. Das hat er sich immer erhofft, doch jetzt weiß er nicht, was er fragen soll.
    «Mythili, seltsam, dass ich dich das erst jetzt, nach drei Jahren, frage. Als Unni starb, warst du für diese Frage noch zu klein: Weißt du, warum Unni es getan hat?»
    Sie blickt zu Boden und sagt: «Das weiß ich nicht.» Sie sitzt auf der Stuhlkante, mit aneinandergepressten Knien und demütig gebeugtem Rücken. Ihre Nägel sind in einer blassen Farbe lackiert, für die es bestimmt einen Namen gibt. Ihre großen blauen Ohrringe sehen aus wie die beiden Erdhalbkugeln.
    «Du hast doch sicher eine Meinung», sagt Ousep. «Anscheinend hat jeder eine Meinung zu dem, was passiert ist. Aber was du darüber denkst, ist besonders wichtig, weil du mit Unni befreundet warst. Du warst sehr oft bei uns. Und er war oft hier.»
    «Ich habe keine Meinung», antwortet sie.
    «Was für ein Mensch war er, wie ist er in deiner Erinnerung?»
    «Er war nett», sagt sie und wartet, dass die Frage sich in Luft auflöst. Doch Ousep wartet ebenfalls. Sie gibt nach. «Er hat nichts ernst genommen und war immer zu Streichen aufgelegt. Er hat viele verrückte Sachen gemacht.» Sie kichert kurz. Endlich das Kichern eines Mädchens, das sich an Unni erinnert. Das ist das Mindeste, was er verdient.
    Denkt sie täglich an ihn, hat sie Sehnsucht, wenn sie sich an ihn erinnert? Oder ist sie eine von diesen Hübschen, Unempfindlichen, die keine Zeit für tote Cartoonkünstler haben? Nichts an ihrem bisherigen Gebaren lässt auch nur andeutungsweise darauf schließen, dass sie ihren Erinnerungen an Unni Wichtigkeit beimisst. Doch wenn der Junge noch am Leben wäre, wären sie dann heimlich zu Liebenden geworden, die sich mitten in der Nacht von ihren Balkonen aus in Zeichensprache unterhalten hätten?
    «Was hat er Verrücktes gemacht?»
    «Einfach Unsinn.»
    «Wie zum Beispiel?»
    «Er hat mich als alte Frau gezeichnet. So Zeug.»
    «Hattest du je das Gefühl, dass er traurig war?»
    «Nein.»
    «Warum hat er sich dann deiner Meinung nach umgebracht?»
    «Ich weiß es nicht», sagt sie, weiter zu Boden blickend.
    «Hat es dich überrascht?»
    «Wir waren alle schockiert.»
    «Warst du überrascht?»
    «Das habe ich doch gesagt.»
    «Hast du ihn an dem Tag, als er starb, gesehen?»
    «Ich weiß es nicht mehr genau. Es ist so lange her.»
    Merkwürdig, dass Mythili nicht mehr weiß, ob sie Unni an dem Tag, als er starb, gesehen hat. Doch damals war sie erst dreizehn. Drei Jahre sind wirklich eine enorm lange Zeit. Und warum sollte sie lügen?
    «Kannst du mir etwas Ungewöhnliches über ihn erzählen, etwas Seltsames, an das du dich erinnerst, irgendetwas Außergewöhnliches?»
    «Nein.»
    «Ihr beiden wart so oft zusammen, da muss es doch irgendwas zu erzählen geben.»
    «Ich war damals ein kleines Mädchen und bin mit allen möglichen Leuten zusammen gewesen.»
    «Hat er dir je von einer Leiche erzählt?»
    Sie blickt auf. Sie hat die großen, freundlichen Augen eines guten Menschen. «Von einer Leiche?», fragt sie.
    «Ja.»
    «Nein, von einer Leiche hat er nie geredet.»
    Ihr Vater erhebt sich, und damit ist die Befragung beendet. Mythili steht auf, verlässt die Wohnung und geht in die Bibliothek.
    ~
    Mythili Balasubramanium weiß, dass ihre Mutter sie beobachtet – vom Balkon aus oder durch einen dunklen Vorhangspalt oder von irgendeiner anderen Stelle aus, wie Mütter sie eben finden. Die Tochter hat sich den ganzen Vormittag verdächtig verhalten. Erst die ausgiebige Kopfshampoonierung, dann der Anfall glücklichen Wohlbefindens, der an dem gesummten Liebesliedzu erkennen war, dann der urplötzliche Entschluss, angeblich in die Bibliothek zu gehen. Das Mädchen

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