Das verbotene Glück der anderen
wollte sich aus dem Haus und ans Tageslicht schleichen, ohne ihren billigen, inländischen Büstenhalter mit einem blickdichten Hemdchen verhüllt zu haben. Eine Tochter, die nicht wie eine ägyptische Mumie eingewickelt war. Warum denn das, Mythili?
«Es ist zu heiß.»
«Wann ist es nicht heiß in Madras, Mythili?»
«Mein Oberteil ist nicht durchsichtig. Also hab dich nicht so.»
«Männer haben den Röntgenblick, Mythili.»
Zudem hat der Besuch des stadtbekannten Alkoholikers mit seinen Fragen über einen zauberhaften Jungen gezeigt, dass die ansonsten jungfräuliche Tochter möglicherweise noch andere zauberhafte Jungen kennt, die zu allem Überfluss quicklebendig sind. Daher wird die Mutter die Tochter nicht aus den Augen lassen, so weit ihr Blick eben reicht. Läuft die Tochter mit gesenktem Haupt, leerem Blick, das Haar weiterhin zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ohne die Brust herauszustrecken?
Erst, als Mythili die Siedlung hinter sich gelassen hat, löst sich die ätherische Kontrolle ihrer Mutter auf, und sie fühlt sich imstande, ihren Erinnerungen an Unni nachzuhängen. Sie fragt sich, was Mr Ousep auf einmal entdeckt haben mag, warum er Unnis Tod plötzlich wieder erforscht.
Sie hätte Mr Ousep vieles über seinen Sohn sagen können. Sie hätte ihm sagen können, dass sie sich ganz genau an Unni erinnert, so, als sei sie ihm erst gestern begegnet. Unni, der mit nacktem Oberkörper wie ein Stammesfürst auf dem Balkon steht, schlank und kräftig von Wuchs, mit seinen langen, schmucklosen Fingern, einen Becher Kaffee in der Hand. Unni, wie er lächelt. Unni, der seinen Bruder auf den Schultern trägt und ihr mit einem schwarzen Stift einen Stern auf die Stirn malt. Sie sieht ihn jeden Tag deutlich vor sich. Er streicht ihr mit einem Streichholzvorsichtig ein Samenkorn aus den Wimpern. Er sitzt im Schneidersitz, den Kopf über sein Heft gebeugt, zeichnet mit schnellen Strichen und sieht ab und zu ernst zu ihr auf. Er blickt ihr in die Augen und errät gleich die Spielkarte, an die sie denkt. Er sitzt auf der Grundstücksmauer und beobachtet die Leute, die vorbeigehen. Er rennt in langen geschmeidigen Schritten durch zyklonische Regengüsse, wie ein wildes Tier, dessen teures Fell sich spannt.
Sie sieht auch sich selbst, so, wie sie damals war. Sie versucht, ihn anzulächeln, ohne dass man ihre Zähne sieht. Sie protzt: «Bonjour, Unni, comment allezvous?»
Sie muss an den Abend denken, als sie über die Spielwiese lief und Unni von hinten kam und ihr wie so oft den Arm um die Schulter legte. Ihre Mutter mit ihren Falkenaugen muss es gesehen haben, oder ihre Falkenaugenfreunde haben es ihr weitergesagt. Jedenfalls läuft die Mutter den ganzen Abend in konzentrischen Kreisen durch die Küche. Als die Tochter endlich nach Hause kommt, sagt sie zu ihr: «Warum trägst du immer noch diese Kleider? Du bist doch keine Angloinderin.»
«Mädchen tragen nun mal Kleider.»
«Nur kleine Mädchen.»
«Stimmt das?»
«Und warum hat dieser Junge seinen Arm um dich gelegt?»
Am nächsten Tag fängt Mutter ein Gespräch an, nur um sagen zu können: «Unni ist wie ein Bruder für dich, der Bruder, den du nie hattest, Mythili. So ein netter Junge, auch wenn seine Eltern geisteskrank sind.» Unni als Bruder zu haben, ist für Mythili aus irgendeinem Grund ein widerwärtiger Gedanke, doch sie schweigt. Schließlich erzählt ihr die Mutter eines Morgens beim Tomatenhacken, was sie schon die ganze Zeit sagen wollte: «Du kannst nicht mehr zu dem Jungen in die Wohnung gehen. Und ich will ihn auch hier nicht mehr sehen. Die Leute reden bereits.»
«Und was sagen sie?»
«Das tut nichts zur Sache, du kannst nicht mehr zu ihm gehen.»
«Und warum nicht?»
«Er ist gewachsen wie ein Berg.»
«Ja und?»
«Du bist kein kleines Mädchen mehr, Mythili. Ein dreizehnjähriges Mädchen ist kein Kind mehr. Das glaubt nur sein dummer Vater. Wir beide wissen, dass du kein Kind mehr bist.»
Doch Mythili widersetzt sich der Mutter. Ihr Leben lang hat sie fast täglich bei den Chackos gesessen, sogar länger, als ihr Gedächtnis zurückreicht. Sie ist über den kurzen Flur zu den Chackos hinübergekrabbelt und hat vor der Tür gejammert, bis Mariamma kam. Sie erinnert sich noch an den Tag, an dem man Thoma nach Hause brachte: ein Neugeborenes, das nach rohen Eiern roch. Da war sie vier. Unni war acht, und die Idee, dass er jetzt ein Baby hatte, begeisterte ihn. Sie hat bei Unni und Thoma gegessen, sie hat dort manchmal
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