Das verbotene Glück der anderen
Stellen ab, in denen Indien erwähnt wird. Nicht als ‹Alte Kultur› oder ‹zweitbevölkerungsreichstes Land› oder ‹Agrargesellschaft›, sondern in richtig schmeichelhaften Worten: «In Indien leben viele kluge Leute, die insgeheim sehr reich sind, und die nackten Leprakranken, die man auf der Straße sieht, sind in Wirklichkeit pakistanische Spione. Zudem sehen indische Jungen sehr gut aus, auch wenn sie das nicht wissen.»
Er sieht seine Mutter mit einem blauen Eimer Wasser aus der Küche kommen. Sie wirkt ruhig und entschlossen. «Nein», sagt er, «tu’s nicht.» Sie tut es nicht jeden Morgen. «Ich muss die Tage auswählen, wegen des ‹Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag›», hatte sie ihm einst erklärt. Thoma versteht das «Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag» nicht genau, weiß aber, dass sie Vater die morgendliche Strafe nur auferlegt, wenn er am Abend vorher zu weit gegangen ist.
«Nein», sagt Thoma und setzt sich auf. «Tu’s nicht.»
Sie reißt die Tür zu Ouseps Schlafzimmer auf und geht zu ihm. Thoma hört sie mit der bebenden Stimme eines Erweckungspredigers schreien: «Oh, Herr, mach, dass dieser Trinker sich bessert, lieber Gott, er ist ein verlorenes Schaf, und du bist der Hirte.»
Er hört, wie der Wasserschwall auf seinem Vater landet, dersich mit einem tiefen Stöhnen erhebt. Eine Sekunde herrscht Ruhe, dann sieht Thoma seine Mutter aus dem Zimmer spurten. In solchen Fällen rennt sie nicht einfach, sondern spurtet wirklich mit rudernden Armen. Niemand in ganz Madras hat je eine Frau ihres Alters so schnell rennen sehen. «Thoma», sagt sie und deutet mit dem Finger auf ihre nackten Füße, während sie an ihm vorbei zur Haustür rast und im Treppenhaus verschwindet.
Ousep taucht mit der Faust an der Stirn aus seinem Zimmer auf – er ist müde und völlig durchnässt und sehr wütend. «Du Miststück, du geisteskrankes Miststück», grölt er die offene Wohnungstür an und geht benommen ins Bad.
Thoma holt die dünnen, verschlissenen Schlappen seiner Mutter unter dem Esstisch hervor und geht damit auf den Balkon. Sie steht auf der Spielwiese und sieht erwartungsvoll nach oben. Er wirft ihr die Schlappen hinunter. Sie lächelt, hebt den einen Daumen hoch und marschiert zur Kirche.
An anderen Tagen geht sie morgens auf Zehenspitzen in Ouseps Zimmer, kommt mit dem Gesicht ganz nah an seines und brüllt ihm dann den Namen des Herrn ins Ohr. Oder sie versteckt sich hinter dem Stoffwandschirm, wartet, bis er aufwacht, und erschreckt ihn dann mit einem plötzlichen Schrei. Thoma hat den Verdacht, dass sie insgeheim einen Herzinfarkt bei ihm auslösen möchte, damit sie ein neues, friedliches Leben anfangen kann, auch wenn sie dann noch ärmer wäre.
Als Unni noch lebte, ist sie weder nach der Wasserbehandlung noch nach dem Geisterschreck aus dem Haus gespurtet. Sie standen zusammen in der Diele und bogen sich vor Lachen, bis sie am Boden lagen und sich die Bäuche hielten. Doch jetzt, wo Unni nicht mehr da ist, fühlt sie sich nicht mehr sicher. Was ist, wenn Ousep sie plötzlich schlägt? Das hat er noch nie getan, aber wer garantiert, dass ein wütender Mann nicht die Kontrolle verliert?
Ousep Chacko schließt Frieden mit seiner Strafe, wäscht sich zu Ende und rasiert sich sogar. Als er in die Diele kommt, sieht er Thoma flüsternd vor der jetzt geschlossenen Wohnungstür stehen. Der Junge hat seinen Vater nicht gehört. Im Gegensatz zu Mariamma, die ringsherum alles in Schwingung versetzt, hat Ousep einen katzenhaften Gang.
Thoma hat die Fäuste geballt und blickt wild auf die Tür. Er fasst Mut, um sie aufzumachen und hinauszugehen und der Welt zu begegnen – nach einer beschämenden Nacht, in der sein Vater fast nackt, betrunken und krakeelend ein Bild des Jammers bot. «Du kannst das, Thoma», sagt der Junge zu sich. «Kämpf, Thoma, zeig es ihnen.»
Grausam ist das für den bedauernswerten Jungen in seinem geflickten Hemd, den geerbten Shorts und den Gummischlappen, die mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten werden. All dies ist grausam. Ousep weiß das, aber er kann nicht aus seiner Haut und ein besserer Mensch werden. Du musst diese Jahre durchstehen, Thoma, und irgendwie durchhalten. Das Leben ist viel leichter, als man denkt. Eines Tages wirst du muskulöse Arme haben, und dann kannst du deinen Zorn an jemandem auslassen. Auch du kannst deinen Vater schlagen und sehen, wie er zu Fall kommt. Dein Vater wird dir vergeben. Viele Jahre später kannst du dann deiner
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