Das verbotene Glück der anderen
Frau von ihm erzählen. Wenn du nackt mit ihr im Dunkeln liegst, kannst du ihr von deinem Vater, dem Dreckskerl, erzählen. Natürlich mit literarischer Übertreibung. Gegen ein bisschen Farbe ist nichts einzuwenden. Sie wird dich fest umarmen und zärtlich streicheln, um deinen ungewöhnlichen Kummer zu lindern. Doch eines sollst du wissen, Thoma, dieser unbestreitbaren Wahrheit kannst du nicht ausweichen. Selbst ein Alkoholiker schenkt seinem Sohn etwas, und sein Geschenk ist sehr kostbar. Du wirst nämlich niemals zum Trinker. So ist es, das ist der Lauf der Welt.
Die glücklichsten Männer auf Erden sind die, die sich schwören, nie wie ihre Väter zu werden. Das hat die Alphamänner zu einer gefährdeten Spezies gemacht. Ihre Söhne haben beschlossen, nicht wie sie zu werden, sondern anständige Männer, die nachts nicht mit Fremden herumschlafen, sondern stattdessen Babypopos putzen, Männer, die nie vergessen, wie alt ihre Kinder sind oder wie ihre Lehrer heißen, die Vorhänge kaufen gehen, Essen von großen in kleine Schüsseln umfüllen und es im Kühlschrank unterbringen, ganz anders als ihre Väter. Wie stehen die Chancen für den Alphamann in einer Welt neuer Männer, die nicht wie ihre Väter sein wollen?
Menschen wie Thoma werden eine ähnliche Welt erschaffen, die für Trinker und dergleichen keinen Platz hat. Und die Unbändigen unter ihnen werden sich ins Scheitern flüchten, um wahrhaft frei zu bleiben.
Thoma ist immer noch unentschlossen. Er weiß immer noch nicht, ob er die Kraft hat, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. «Kämpf, Thoma, zeig’s ihnen», sagt er immer wieder. Wahrscheinlich variiert er dieses Ritual jeden Morgen, wenn er die Haustür öffnen und in die Schule gehen muss. Es ist wie ein kaltes Eimerbad im Morgengrauen – der erste Guss verlangt Mut, danach ist es nicht mehr so schlimm. Wenn Thoma erst einmal im Flur steht, kann er den Rest bewältigen. Doch zuerst braucht er Mut, um die Tür zu öffnen. Er atmet tief und entschlossen durch. Dann gibt er auf. Die letzte Nacht war vermutlich ein bisschen zu viel für ihn.
Thoma macht kehrt und geht in sein Zimmer. Zu seinem Entsetzen starrt ihn sein Vater an und fragt: «Hat Unni mit dir jemals über eine Leiche gesprochen?»
«Nein», sagt der Junge, ohne seinem Vater in die Augen zu sehen.
Thoma hat jetzt einen triftigen Grund, vor die Tür zu treten,und verlässt tatsächlich die Wohnung. In dem Augenblick öffnet sich die Tür nebenan, und Mythili erscheint in einem blauen Salwar-Kurta. Thoma sieht sie nicht an, er blickt zu Boden und rennt die Treppe hinunter.
«Mythili», sagt Ousep spontan. Er kann sich nicht entsinnen, sie je gerufen zu haben. Er fragt sich, ob sie überhaupt seinen Namen kennt. Das würde ihm irgendwie schmeicheln. Sie sieht ihn mit dem schüchternen Lächeln einer Fremden an. Was für ein ehrwürdiges Affentheater das Mädchen doch abgibt.
«Ich will kurz mit dir sprechen», sagt er und tritt auf den Flur hinaus.
«Ich gehe zur Bibliothek», sagt sie.
«Es dauert nur fünf Minuten», sagt er, «ich möchte dir ein paar Fragen zu Unni stellen.»
Wie zu erwarten, taucht ihre Mutter auf und legt die Hand an den Türrahmen. Sie wirft einen kurzen prüfenden Blick auf ihren eigenen Busen, als wollte sie ihm ihr Misstrauen Männern gegenüber anvertrauen. Mit dem Stahlschlüsselbund, der an ihrer Taille herunterhängt, wirkt sie wie eine Wärterin, die die Schätze ihrer Tochter bewacht.
«Mythili geht zur Leihbücherei», sagt sie unglücklich.
«Ich muss mit ihr sprechen», sagt er und sieht das Mädchen an. Er versucht, sie zu sich in die Wohnung zu führen. «Komm doch rein», sagt er im Ton eines unschuldigen, anständigen Mannes.
Sie sieht ihre Mutter an, die sie wütend anstarrt, als sei alles ihre Schuld. Ousep versucht, eine sanfte, verletzliche, krumme Haltung einzunehmen und gekränkt dreinzublicken. «Was ist mit dir, Mythili? Magst du uns nicht mehr? Du hast doch deine ganze Kindheit bei uns verbracht.»
«Sie können bei uns mit ihr reden», sagt ihre Mutter.
So etwas hatte Ousep befürchtet, doch jetzt, da die Frau esgesagt hat, hat er keine andere Wahl. Sie lässt ihn vorbei, und er betritt zum ersten Mal ihre Wohnung. Es riecht dort wie in jedem guten Heim, nach Dampf und Kräutern und unsichtbaren Jasminblüten und ganz leicht nach Räucherwerk. Es ist der Geruch von Leuten, die nicht über die Stränge schlagen. Sie tun alles, was man von ihnen erwartet. Genau genommen
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