Das verbotene Glück der anderen
verändert vor. Eine Welt ohne Frauen ist eine völlig andere Welt.
Eines Nachmittags kam Unni im Treppenhaus der Schule von hinten auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: «Es ist an der Zeit, dass du aufhörst zu masturbieren. Hör augenblicklich damit auf. Geh nicht nach Hause und spritz noch ein letztes Mal. Gib es unmittelbar auf. Nach und nach wirst du eine mächtige Kraft in dir spüren und auf die nächsthöhere Ebene gelangen.»
Was Sai hier dem Vater eines Freundes offenbarte, war erstaunlich freimütig. Ousep sah ein Motiv dahinter. Vermutlich wollte der Junge ihn davon überzeugen, dass er ihm nichts verschwieg, und benutzte das Geständnis über seine Sexualität, um dieses Ammenmärchen glaubwürdig zu machen. War Sai ein listiger Mistkerl oder nur ein Junge, der sich eine Blöße gab?
Sais eingebildete Unzucht bescherte ihm die einzigen Glücksmomentein seinem Leben. «Aber ich hab aufgehört. Einfach so, weil Unni gesagt hat, ich muss damit aufhören.» Innerhalb weniger Wochen wurde er wahnsinnig. Er bekam enorme Erektionen, die stundenlang anhielten, und empfand heftiges sexuelles Begehren für seine Mutter, die er nie als Frau gesehen hatte. Auch sie sah er nicht mehr an, was alle zu Hause verwirrte. Schließlich nahm sein Vater den Ledergürtel in die eine Hand und zeigte mit der anderen auf seine Frau: «Sieh sie an, Sai, sieh deine Mutter an.»
Während dieses Gefühlsaufruhrs fuhr er jeden Abend mit dem Rad zu «Tutorien mit Brillanz», um sich auf das JEE vorzubereiten. Die Aufnahmeprüfung war in wenigen Monaten, doch die Noten, die Sai im Vorbereitungskurs erzielte, wurden immer schlechter, was kaum überraschte. Sein Vater schlug ihn jetzt fast jeden Tag, und das führte dazu, dass Sai tiefer über den Sinn des Lebens und Unnis Geheimnis nachdachte.
Man sah Unni jetzt oft in Gesellschaft von Somen Pillai, sogar sonntags. Es war eine neue Freundschaft, wie Ousep immer wieder gehört hatte und jetzt auch von Sai bestätigt bekam. Somen Pillai, der einsame, unbedeutende Junge, der im Unterricht kaum die Stimme erhob, der keine Begabungen hatte und nicht einmal rannte, wurde plötzlich zu einer rätselhaften Gestalt. Jetzt, da ihn sich jeder näher ansah, waren alle der Meinung, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er ging unnatürlich langsam und hatte ein unergründliches Lächeln. «Etwas war mit ihm.»
Das ist das Ärgerlichste an den Erinnerungen, die alle an Somen haben. Sie sind sich sicher, dass er nicht normal war, doch keiner kann richtig erklären, was mit ihm nicht stimmte. «Er war irgendwie nicht anwesend, auch wenn er da war. Er bewegte sich kaum und fiel nie auf. Er sprach fast nie, und wenn er etwas sagte, konstruierte er seine Sätze ein wenig seltsam. Ich kann das nicht näher erklären.»
Sai geriet in die Gesellschaft von Unni und Somen Pillai, und sie ließen ihn gewähren. Er ging mit ihnen mit, aß mit ihnen, saß mit ihnen auf der Treppe der Fatima-Kirche und hörte ihren Unterhaltungen zu. «Meistens sprachen sie über Hindugötter, was mich überrascht hat.»
In Unnis Weltsicht war der Hinduismus ein gigantischer Comic, der über Jahrhunderte hinweg von großen Künstlern geschaffen worden war, die in ihren kryptischen Geschichten eine Bedeutung in der anderen kodierten. Doch die Dämonen und Götter mit ihren zahlreichen Händen und tierköpfigen Geschöpfen waren keine absonderlichen Metaphern. Laut Unni haben sie wirklich existiert, und sie existieren sogar noch heute, sie leben unter ganz normalen Menschen. Was wollte Unni damit sagen? Er hat das doch bestimmt nicht geglaubt? Hat er nur versucht, die Gedanken der Dummköpfe durcheinanderzubringen? Ist es jetzt an der Zeit, dass Ousep eine Tatsache akzeptiert, die sich ihm schon lange aufdrängt – dass sein Sohn nämlich ein Anarchist war, der mit den bescheidenen Mitteln eines Siebzehnjährigen gegen seine Mitmenschen intrigierte?
Auf dem Weg zu seinem JEE-Vorbereitungsunterricht bog Sai eines Abends nach der Schule in eine enge, ungepflasterte Gasse ein, die zu Somens Haus führte. Er war noch nie bei ihm gewesen. Als er zum Tor kam, sah er Somen und Unni, eingerahmt von einem gigantischen Vorderfenster, Schach spielen. Somen, der keinerlei Überraschung zeigte, ließ ihn herein und spielte weiter. Sai setzte sich zu ihnen und sah dem Spiel schweigend zu. Er sah, dass sie auf viel höherem Niveau spielten als er selbst. «Dazusitzen und zwei Jungs zuzusehen, die sich nicht für die Aufnahmeprüfungen
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