Das verbotene Glück der anderen
über die Unendlichkeit des Raumes machte ihn jeden Tag für ein paar Stunden wahnsinnig. Er bildete sich ein, seine Beschäftigung mit der Frage, «Wo endet der Weltraum?», hätte etwas Hochgeistiges. Oft dachte er darüber nach, warum es Seiendes gab und nicht vielmehr Nichts, und was das Leben auf einem Stäubchen am Rand einer anderen Galaxie bedeutete.
«Das war damals mein Leben. Tiefschürfende Gedanken, Prügel von meinem Vater, dann noch tiefschürfendere Gedanken und wieder Prügel. Ich führte ein Doppelleben. Manchmal war das gesamte Weltall in meinem Kopf, dann wieder hatte ich rote Ausschläge auf dem Hintern.»
Ousep gähnte, um sich ein Lachen zu verkneifen.
Zu dieser düsteren Zeit kam Unni eines Morgens ins Klassenzimmer und sagte, es sei etwas Rätselhaftes im Gange. «In mir öffnete sich ein inneres Auge», sagte Sai. «Wie kann ich erklären, was mir widerfuhr? Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, sehen zu können.»
Ihm wurde augenblicklich klar, dass alle Philosophen, die er gelesen hatte, alle Religionen, selbst Einstein und J. Krishnamurti dasselbe sagten, nur mit je anderen Worten – dass hinter der Welt, die wir sehen, hinter den ganz normalen Tagen unseres Lebens eine entsetzliche Wahrheit verborgen liegt. Gott ist keine Lüge, sondern eine Art Kurzversion dieser Wirklichkeit, ein Anfängerkurs, der missverstanden wurde.
In seinem Trancezustand dachte Sai, er wäre erleuchtet und die allgemein gültige Wahrheit würde spätestens zur Mittagessenszeit in allen Einzelheiten in seinen Kopf gelangen. Wenn ihm im Unterricht ein Lehrer eine Frage stellte, schwieg er und lächelte sogar friedlich. Der Mann verprügelte ihn. «‹Noch so ein Sohn eines Bauern, der nicht lesen und schreiben kann und zum Christentum konvertiert ist, weil er dafür ein Fahrrad oder sonst was bekam.› Er schlug mich weiter, doch ich bekam kein Wort heraus. Das machte ihn rasend. Er sagte: ‹Sai, sag einen Ton, ein einziges Wort, dann lass ich dich in Ruhe. Sag zumindest A, B, C, D und gebrauch deinen Mund, den der Herr dir gegeben hat, sonst schlag ich dich heute noch tot.›»
Obwohl Sai verprügelt wurde, war er nicht imstande, sich von dem Augenblick frei zu machen. Doch abends hatte er sich wieder erholt und merkte, dass er nicht erleuchtet war. Er fragte Unni, was er mit dem, was er morgens gesagt hatte, gemeint habe. Unni erklärte ihm, es sei ein verrückter Augenblick gewesen, und er wolle nicht darüber reden – über solche Dinge zu reden, sei gefährlich. Das machte Sai natürlich noch besessener.
Tagelang bat er Unni um eine Erklärung. Unni sagte, die Sache lasse sich nicht erklären, aber es fänden sich überall Hinweise.
«Unni sagte zu mir: ‹Sai, hast du dich je gefragt, warum Tiere nie zum Himmel blicken? Das muss einen Grund haben, es gibt einen Grund dafür.›» Unni zeigte ihm eine Reihe von Bildern, die er von Säugtieren gezeichnet hatte, die zum Himmel blickten, und sagte: «Ich hab sie gezeichnet, weil ich zeigen wollte, wie seltsam es für uns ist, wenn Tiere nach oben blicken. Das tun sie nämlich nie. Und warum?» Sai bettelte, er möge es erklären, doch Unni sagte, diese Dinge ließen sich nicht durch Sprache verstehen. «Er sagte: ‹Die Natur hat die Sprache geschaffen, um ihre Geheimnisse zu bewahren, nicht, um sie zu enthüllen. Wir sind in der Sprache gefangen. Selbst das Denken ist Sprache geworden.Und genau das will die Natur, Sai. Sie hat uns die Sprache gegeben, weil sie die Wahrheit woanders versteckt hat.›»
«Die Natur ist also unser Feind?», fragte Sai flüsternd.
Unni blickte sich vorsichtig um. «Du wirst es nicht glauben, Sai. Wenn du das siehst, wirst du es nicht glauben.»
Sai fing an, stundenlang darüber nachzubrüten, was Unni gesehen haben könnte. Er beschattete Unni, rief ihn mehrmals an und stellte ihm Fragen, ging zu ihm nach Hause, saß während des Unterrichts neben ihm. Mit der Zeit wurde Unni etwas entspannter. «Eines Tages sagte er zu mir: ‹Versuch mal, durch die Straßen zu gehen, ohne ein Mädchen anzusehen, sieh die Mädchen nicht an, sieh dir ihre Körper nicht an. Frag mich nicht, wieso, tu’s einfach.›»
Sai sah keine jungen Frauen mehr an, auch nicht mehr seine Lehrerinnen. Wenn er auf der Straße eine Frau sah, ging er gesenkten Blickes weiter. Wenn ihn junge Mütter ansprachen, starrte er auf seine Zehennägel und gab Antwort. Er fing an, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und auch die Welt kam ihm
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