Das verbotene Glück der anderen
redete er überraschenderweise über sich selbst. Sai war wirklich gekommen, um zu reden.
Wie Unni und Balki und viele andere war Sai mit sechs Jahren auf die St.-Ignatius-Schule gekommen. Sai war ein langsamerSchüler, und sein Vater glaubte, Abhilfe schaffen zu können, indem er ihn ab und zu mit einem Ledergürtel verdrosch. Der Mann hatte die Angewohnheit, das Zeugnis seines Sohnes in der einen Hand zu halten und den Ledergürtel in der anderen und dann seine Noten laut vorzulesen und ihn gleichzeitig zu schlagen. Gelegentlich jagte er den kleinen Sai auch mit einem heißen Servierlöffel durchs Haus. Der Löffel kam oft in Berührung mit Sais Körper, gewöhnlich mit seinen Armen und Schenkeln. Wie viele Jungen seines Alters wuchs Sai zu einem zerbrechlichen Teenager heran, der zu Hause von einem Mann verprügelt wurde, der kleiner war als er und nach und nach immer kleiner wurde.
«Ich war so unglücklich», sagte Sai, während er sich die Nase rieb und wegsah. «Ich war so unglücklich, dass meine Haare sich veränderten. Sie fingen an, sich zu kräuseln.»
«Deine Haare?»
«Ja. Als ich sechzehn war, stand ich ein paar Monate so unter Stress, dass meine Haare kraus wurden wie die eines Schwarzen. Unni hat mich immer ‹Schamhaar› genannt.»
Das gesamte Jahrzehnt hindurch hatte sich Sai nicht viel aus Unni gemacht – bis ganz zum Schluss. Selbst nach der Simion-Clark-Geschichte war Unni bestenfalls ein Kuriosum, bis zu dem Tag, als er in die Klasse kam und sagte, die Wirklichkeit sei nicht so, wie sie allen erscheine, etwas sei im Gange, alles, was die Leute für wahr hielten, sei gelogen.
Sai schilderte Unnis nervöse Proklamation, und seine Schilderung stimmte mit allem überein, was Ousep zuvor über diesen Tag gehört hatte. Unni hatte vermutlich nicht einmal eine Minute gesprochen, doch etwas geschah mit Sai, etwas Machtvolles durchfuhr ihn, so, als hätte eine gefährliche Idee, die in seinem dunklen Inneren lauerte, nun das Licht erblickt. «Das Erste, was ich empfand, war Angst, und ich drehte mich um – warum, weiß ich auch nicht», sagte er.
Ousep fragt sich, warum dieser Augenblick bei so vielen Jungen einen derart tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Die Wirkung, die er hatte, war unverhältnismäßig heftig. Er versucht, sich die Szene vorzustellen, von der er so oft erzählt bekommen hatte. Alle Berichte sind identisch, bis auf Unnis genauen Wortlaut, der für immer verloren ist. Sie beginnen alle damit, dass Unni kurz vor dem ersten Klingeln ins Klassenzimmer kam. War das Unnis Plan gewesen – zu warten, bis alle auf ihren Plätzen saßen, und erst ganz zum Schluss unübersehbar in Erscheinung zu treten, sodass alle Augen auf ihn gerichtet waren?
Zu dem Zeitpunkt, als sich die Sache ereignete, genoss Unni großes Ansehen, was für das weitere Geschehen wichtig war. Unni hatte viele Seiten: Er war ein Geschichtenerzähler, er spielte mit großem Ernst Fußball, warf den Kricketball in wildem Tempo und hatte einen mächtigen sadistischen Lehrer auf außergewöhnliche Weise überwältigt. Diese Persönlichkeit – und nicht irgendjemand – war an jenem Tag ins Klassenzimmer gekommen und hatte ihnen nicht mit seiner üblichen, unerschütterlichen Ruhe, sondern nervös und voller Angst erzählt, dass dort draußen in der sie umgebenden Wirklichkeit etwas auf der Lauer liege und dass er es wahrscheinlich von ganz nah gesehen habe. Ousep muss zugeben, dass die Szene samt der Vorgeschichte der Hauptfigur genug hergab, um sich für immer ins Gedächtnis einzuprägen.
Sai hatte sich längst von der Religion abgewandt, als die Sache passierte. «Ich sah keinerlei Sinn in Gott», sagte er mit der stolzen, selbstgefälligen Haltung eines jungen Atheisten. «Ich hatte verstanden, dass das Leben bloßer Zufall war.»
Ousep wartete auf den unvermeidlichen Satz, die Zeile, die Atheisten, ohne dass sie es merken, in den Schoß der Religion zurückholt und die normalerweise folgendermaßen lautet: «Aber ich glaube an eine höhere Macht.»
Sai blickte aufmerksam auf den Boden und sagte mit einem Funken intuitiver Erkenntnis: «Aber es gibt eine höhere Macht, daran glaube ich.»
Die Vorstellung, dass das Leben Zufall sei, beleidigte Gott, und das tröstete Sai, war aber für ihn keine ausreichende Erklärung. Er verbrachte Stunden damit, in den Himmel zu blicken. «Der Himmel bei Tag, der Himmel bei Nacht», sagte er, um deutlich zu machen, wie umfassend seine Forschungen waren. Das Nachdenken
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