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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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kurz bevor man von ihm erfasst wurde, vom Gleis springen. Sai stand da, besah sich den Horizont und wartete auf den Zug, aber eine Weile geschah gar nichts. Dann hörte er das Tuten des Zugs, ballte die Fäuste zusammen und wartete. Er hörte, wie das Tuten immer lauter wurde, und dann hörte er das Geräusch des Zugs auf den Schienen. Er machte die Augen auf, konnte aber keinen Zug sehen, bis ihm schlagartig klar wurde, dass der Zug von hinten kam. Als er sich umdrehte, war der Zug nur noch ein paar Hundert Meter weit weg. «Ich wollte vom Gleis springen, aber Unni hielt mich fest, und ich konnte mich nicht losmachen. Er und Somen lachten. Ich fing an, Unni zu schlagen, aber er hielt mich weiter fest. Ich dachte, ich würde mit ihnensterben. Ich dachte, sie seien hergekommen, um zu sterben.» Sai schloss die Augen, spürte einen starken Luftzug im Rücken, und dann weiß er nur noch, dass er davonstürzte. Somen und Unni wälzten sich lachend auf dem Schotter neben den Schienen. Sai war wie betäubt und konnte sich nicht vom Fleck rühren.
    Das war der Augenblick, in dem er ihnen die Freundschaft kündigte. Er besuchte Somen nicht mehr und ignorierte die beiden im Unterricht. «Es machte ihnen nichts aus. Sie haben mich nicht gefragt, warum ich nicht mehr mit ihnen redete. Es war ihnen ganz egal. Danach habe ich nie mehr mit Unni gesprochen. Als ich erfuhr, dass Unni sich umgebracht hatte, war ich nicht überrascht. Haben Sie sich je gefragt, wieso Sie Somen Pillai nie angetroffen haben?»
    «Wieso nicht?»
    «Wissen Sie das wirklich nicht?»
    «Nein.»
    «Weil er tot ist.»
    «Und seine Eltern verheimlichen es? Das ergibt keinen Sinn.»
    «Höchstwahrscheinlich wissen seine Eltern es gar nicht. Vielleicht ist er einfach eines Tages verschwunden, und sie wollen sich nicht eingestehen, dass er verrückt geworden ist und sie verlassen hat. Seine Knochen liegen sicher auf dem Grund eines Kanals unter einer Eisenbahnbrücke.»
    «Sai, das sagst du, weil du es so haben willst. Wenn ich Somen Pillai treffe und er mit mir redet, werde ich herausfinden, was du mir verschwiegen hast. Stimmt’s, Sai?»
    Sai sagte traurig auflachend: «Ich hab Ihnen alles gesagt. Bis auf eine Kleinigkeit, und die sag ich Ihnen jetzt. Wenn ich früher davon gesprochen hätte, dann hätten Sie mich über nichts anderes mehr reden lassen.»
    Sai hatte recht, denn was er ihm jetzt offenbarte, war schlicht, dass Unnis letzter Comic
Wie soll man es nennen
an ihn adressiertgewesen war. Das Einzige, was Unni an seinen Comic-Kreationen hasste, war das Ausfüllen der Sprechblasen. Texte zu erfinden, fand er langweilig, und deshalb dachte er sich wahrscheinlich meistens Geschichten aus, die ohne Worte auskamen. Doch offensichtlich brauchten manche seiner Comics Texte, deren Erstellung er Sai aufbürdete. Die Sprechblasen ließ Unni normalerweise frei und notierte, wenn er mit einem Comic fertig war, die Geschichte auf einen Zettel.
    «Ich musste die Geschichte lesen und das Storyboard grob entwerfen, das er dann absegnete. Er korrigierte immer sehr viel, und ich schrieb eine Rohfassung nach der anderen, bis er zufrieden war und ich die Sprechblasen sorgfältig in Großbuchstaben ausfüllen konnte. Doch wenn ich damit fertig war, zerriss er die Comics sehr oft und warf sie weg. Er war selten zufrieden mit seinen Kreationen.»
    Sai fragte Ousep, wie er an den Comic gekommen sei. Während Ousep es ihm erklärte, tat der Junge etwas Unerwartetes – er hob seine billige Umhängetasche vom Boden auf, stand auf und wollte gehen.
    «Setz dich wieder hin, Sai.»
    «Ich muss gehen.»
    «Ach ja?»
    «Ja.»
    «Wie solltest du denn die Sprechblasen ausfüllen, ohne die Geschichte zu kennen?»
    «Ich kannte die Geschichte. Er hatte sie aufgeschrieben und mir gegeben, den Comic aber erst ein paar Wochen später zu Ende gezeichnet. Ich sehe ihn jetzt, da Sie ihn mir zeigen, zum ersten Mal.»
    «Setz dich, Sai, wir müssen weiterreden.»
    «Ich weiß, was Sie mich gleich fragen.»
    «Und zwar?»
    «Sie wollen mich fragen: ‹Wie lautet die Geschichte des Comics, und wo ist sie jetzt?›»
    «Wo ist die Geschichte?»
    «Ich hab sie heute Morgen Unnis Mutter gegeben.»
    Ousep hat vermutlich leise aufgestöhnt. «Warum hast du das denn getan, du Idiot? Gehst einfach her und gibst dieser Frau das, was ich die ganze Zeit gesucht habe!»
    «Weil die Geschichte von ihr handelt. Sie handelt von etwas sehr Privatem aus ihrem Leben. Ich bin Unni gegenüber verpflichtet, die

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