Das verbotene Glück der anderen
Vergangenheit seiner Mutter zu schützen.»
«Wart mal einen Moment, Sai. Das ist wichtig.»
«Unnis Comic handelt von etwas, das seine Mutter betrifft. Ich werde Ihnen nicht sagen, um was es geht. Sie müssen sie selber fragen.»
«Sai, du machst einen Fehler. Wie lautet die Geschichte?»
«Das kann ich Ihnen nicht sagen.»
«Aber er hat sie dir erzählt. Dann kann sein Vater sie doch auch erfahren. Also erzähl.»
«Unni hat gesagt, sein Vater dürfe sie nie erfahren, das sei der ausdrückliche Wunsch seiner Mutter.»
«Setz dich wieder, Sai. Setz dich hin und erzähl mir mehr.»
«Wissen Sie eigentlich, dass Unni drei Tage verschwunden war?»
«Nein, das wusste ich nicht.»
«Sie haben nie gewusst, was in dem Haus geschah.»
«Warum war er verschwunden? Wo war er?»
«Warum ist Ihnen dieser Comic so wichtig?», fragte Sai und trat ein paar Schritte zurück.
«Weil er dir den Comic geschickt hat und ein paar Stunden später tot war.»
«Und Sie sehen da einen Zusammenhang?»
«Den gibt es eindeutig.»
Sai blickte auf eine Art, die etwas in Ousep abtötete. Das ehrliche Mitgefühl eines Dummkopfs war wirklich erniedrigend. «Haben Sie deshalb wieder mit Ihren Nachforschungen angefangen?», fragte Sai. «Sind Sie deshalb seit Monaten so aktiv? Weil Sie seinen Comic gefunden haben? Sie tun mir leid. Der Comic hat wirklich nichts mit seinem Tod zu tun. Wenn Unnis Mutter Ihnen je die Geschichte des Comics erzählt, werden Sie verstehen, warum ich das sage.»
«Erzähl mir die Geschichte, Sai.»
«Ich muss jetzt gehen. Ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und alles, was ich sagen kann. Ich möchte Sie nie wieder treffen. Weder Sie noch Unni noch Somen. Ich will nichts mehr mit all dem zu tun haben. Ich bin ein normaler Mensch, ich will normale Dinge. Ich will weder die Wahrheit sehen noch die Schönheit. Ich bin nichts weiter als ein Junge aus Madras, der nach Amerika will.»
~
Mariamma Chacko machte sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe, dass sie Unni erzählt hatte, was ihr im Alter von zwölf Jahren zugestoßen war. Trotz seiner Großtuerei war er noch ein Kind, und sie als Mutter hätte ihn vor sich selbst schützen sollen. Doch Unni war hartnäckig gewesen. Viele ihrer Monologe hatte er zusammengesetzt und verstanden, dass ihre Empörung auf eine Begebenheit in ihrer Kindheit zurückging. Er fragte sie fast jeden Tag, was geschehen war. Er ließ nicht locker, und in einem schwachen Moment gab sie nach. Sie saßen auf dem Küchenboden, und sie erzählte ihm von jenem Tag. Zu Beginn war sie ein glückliches zwölfjähriges Dorfmädchen, das nie nörgelte, so hatte sie sich selbst beschrieben.
Sie ist in ihrem Dorf und geht am Südfluss entlang, der unterhalb des Hügels an einem gewaltigen Felsen vorbeifließt, von dem die halbnackten Jungen ins Wasser springen. Sie ist schon oft am Ufer entlanggegangen, und diese Spaziergänge waren nichts Besonderes. Noch sieht sie den Felsen nicht, der erst hinter der Biegung des Flusses auftauchen wird. Ringsum herrscht die ihr vertraute Stille, und sie sagt sich, dass sie die Friedlichkeit des Hügels lieber hat als die Hektik der Großstadt. Sie sieht, dass jemand auf sie zukommt, ein junger Mann mit dem geschmeidigen Gang eines Fuchses. Als er näher kommt, erkennt sie, dass es Philipose ist, ein Mann, der in mindestens acht Dörfern als «begabter junger Mann» gilt. Er trägt sonntags aus der Bibel vor, singt im Chor, organisiert Bootsrennen, leitet Protestmärsche zum Büro des Bezirksverwaltungsbeamten, um für die Kautschukhügel geteerte Straßen zu fordern. Sie lächelt ihn an. Er bleibt unerwartet stehen und fängt ein Gespräch mit ihr an. Sie kann seine Fahne riechen und geht deshalb weiter. «Bleib noch da und rede ein bisschen mit mir», sagt er. Sie antwortet, sie müsse weiter. Doch er fasst sie bei der Hand und sagt: «Warum hast du es heute so eilig?» Sie versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hält sie fest. Sie fängt an zu schreien. Er hält ihr den Mund zu und stößt sie zu Boden. Er betatscht sie und zerreißt dabei ihre Kleider. Sie wehrt sich, doch er ist zu stark für sie. Es gelingt ihr, ihm einen Stein ins Auge zu rammen. Während er brüllt, schreit sie ebenfalls. Ein paar Leute kommen zu ihr gerannt. Philipose ergreift die Flucht. Niemand rennt ihm hinterher. «Es ist Philipose», sagen sie, «es ist Philipose.»
Sieben Frauen hüllen Mariamma in ein Betttuch und bringen sie zu ihrer Mutter. Sie gehen den
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