Das verbotene Glück der anderen
Hügel mit ihr hinauf. Ihre Mutter steht oben und wartet, die Hände in die Hüften gestützt. Sie hat gehört, was passiert ist. Mariamma freut sich, ihre Mutter zu sehen. Doch kaum hat ihre Mutter sie in Empfang genommen,schlägt sie sie vor allen Frauen. «Was musst du allein am Ufer herumstolzieren?», sagt sie. Sie bringt sie ins Haus und fragt: «Was hat er genau getan?» Mariamma weiß nicht, wie sie auf die Frage antworten soll. Sie sagt nichts. Die Mutter untersucht sie und wirkt erleichtert. «So was passiert, wenn ein Mädchen nicht vorsichtig ist», sagt ihre Mutter. «Denk einfach nicht mehr dran.»
Am selben Abend sitzen sie im Coracle und fahren zu Mariammas Pflegeeltern. Ihre Mutter hat ihr nichts zu sagen, kein einziges Wort. Mariamma wird am Ufer abgesetzt. Sie watet durch das seichte Wasser und gelangt zu dem Treppchen. Als sie sich umdreht, hat sich das Boot mit ihrer Mutter schon ein Stück entfernt. Mariamma steht da und blickt dem Boot noch nach, als es längst verschwunden ist. Sie weiß nicht, wie lange sie dort steht. Schließlich wird sie von einer Wolke weiß gekleideter Frauen mittleren Alters überrascht, die von einer Beerdigung zurückkommen. Sie blicken sie an, als sei sie ein seltsames Tier.
«Was ist mit dir, Mariammo?», sagt eine von ihnen.
«Warum fragt Ihr mich das?»
«Du hast mit dem Fluss gesprochen.»
Das passiert in den nächsten Wochen noch manches Mal: Jemand erschreckt sie und sagt ihr, sie habe Selbstgespräche geführt. Allmählich heißt es, Mariamma benehme sich komisch. Das sagen alle. Doch über Philipose sagen sie immer noch: «der begabte junge Mann».
Unni war wütend. «Hat man Philipose bestraft? Sag mir, dass sie irgendwas gegen ihn unternommen haben», sagt er.
«Nein», antwortet sie. «Nicht einmal reden wollten sie über die Sache. Vor allem meine Mutter schwieg eisern. Und Philipose lebte weiter, als sei nichts gewesen.»
Unni nahm ein Glas und schmetterte es auf den Boden. «Ich bring ihn um», sagte er. Den sanften Jungen so zornig zu sehen, war erschreckend.
Als Mariamma die Tür zum Krankenhauszimmer öffnet und in den milchweißen Raum tritt, sieht sie Ousep auf dem Bett sitzen und sie anstarren, als hätte er darauf gewartet, dass die Tür endlich aufgeht. Sie zieht einen Stuhl neben sein Bett, setzt sich hin und stellt ihre Tasche auf den Boden. «Ich weiß, was du wissen willst», sagt sie. Und dann erzählt sie ihm, was sie bis zu diesem Augenblick nur Unni erzählt hatte. Ousep hört wortlos zu. Als sie fertig ist, legt er seine matte Hand auf ihren Schoß.
«Warum hast du mir das nie erzählt?», fragt er.
«Ich wollte nicht. Als ich dich geheiratet habe, warst du mein ganzes Glück. Ich wollte vergessen, was vorher war.»
«Du hättest es mir sagen sollen», sagt er immer wieder wie ein Idiot.
«Ich habe es Unni erzählt, warum, weiß ich auch nicht. Das hätte ich nicht tun sollen. Er war tagelang verstört und fing an, zu reden wie ich. ‹Er ist davongekommen, stimmt’s? Philipose ist davongekommen.› Eines Abends blieb Unni weg. Ich wartete, aber er kam nicht nach Hause. Ich rief alle seine Freunde an, aber keiner wusste, wo er war. Du kamst betrunken nach Hause, tatest das Übliche und gingst ins Bett. Aber Unni war immer noch nicht zurück. Am nächsten Morgen rief er mich an und sagte, er sei in Kerala und wolle Philipose gegenübertreten. Ich fing an, ihn anzuschreien, aber er legte auf. Zwei Tage später kam er zurück und erzählte mir, was geschehen war. Der Comic, den du die ganze Zeit gehütet hast, Ousep, handelt davon. Er handelt von Unnis Reise zu Philipose.»
«Und was geschah, als er bei Philipose war?»
«Woher hast du diesen Comic?», fragt sie.
Er sagt es ihr.
«Hast du deswegen angefangen, seine Freunde wieder zu treffen?», fragt sie.
«Ja.»
«Der Comic erklärt nicht, warum er gestorben ist, Ousep.»
«Das weiß ich.»
«Was du herausfinden musst, hab ich dir schon mal gesagt – warum Unni mir keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Die Frage musst du verfolgen.»
«Aber was bedeutet das denn? Was bedeutet es, dass Unni dir seinen Tod nicht erklärt hat, Mariammo?»
«Das ist doch offensichtlich. Ich dachte, du wüsstest es. Ich dachte, du hättest es verstanden.»
«Nein, ich versteh’s nicht», sagt Ousep.
«Unni dachte, ich würde von selbst darauf kommen, warum er den Tod gewählt hat.»
«Aber du kommst nicht drauf.»
«Nein. Geh und finde heraus, was ich Unnis Meinung nach wissen
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