Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
und nun habe ich keine Ahnung, wo er steckt. Er hat seine wahre Identität nicht preisgegeben. Womöglich sitze ich in der nächsten Parlamentssitzung nichts ahnend neben ihm.
Ich habe versagt. Ich habe Edward und Melisande verraten. Inzwischen sind sie vermutlich tot, oder sie werden es bald sein. Aber ich kann nichts tun, um sie zu retten. Ich habe sie in diese Sache verwickelt, und meinetwegen werden sie sterben.
Gallebittere Wut stieg in ihm auf, so heiß und schwarz, dass er beinahe daran erstickte. Er war wütend auf einfach alle, auf Maristara, auf Bran, auf Anora und natürlich auf sich. Mit welchem Recht haben wir uns eingemischt? Wir alle? Überhaupt? Selbst jene Drachen aus alter Zeit, welche die Menschen sanft aus dem Schlamm der Schöpfung emporhoben. Das taten sie nicht aus Selbstlosigkeit, sondern nur aus Neugier.
»Wie wäre es mit einem Experiment?«, haben sie gesagt. »Mal sehen, was aus dieser schlauen, kleinen Art so alles werden könnte.«
Der Ärger verlieh ihm Kraft, als wäre er ein Stock, auf den er beißen könnte, während er die nötige Magie zusammensuchte, sie festhielt und durch seinen zitternden Körper rinnen ließ. Sie durchflutete ihn mit ihrer Wärme und betäubte die Schmerzen.
Drakonas rappelte sich auf und sah sich seine Lage genauer an. Er war noch nicht richtig geheilt. Dazu brauchte er einen ganzen Tag Ruhe und ungestörten Schlaf, aber das konnte er sich momentan nicht leisten. Die Kopfschmerzen jedoch waren kein brutaler, vernichtender Schmerz mehr, sondern nur ein dumpfes Pochen. Auch das Atmen tat noch weh, denn seine Rippen wurden nur von dem dünnen Draht der Magie zusammengehalten. Dasselbe galt für den gebrochenen Arm. Immerhin konnte er ihn bewegen und die Finger rühren, das war schon eine ganze Menge.
Jetzt betrachtete er seine Umgebung, denn er hatte keine Ahnung, wo er an Land gegangen war. Der Fluss hatte die seidengraue Farbe des Abends angenommen. Da kein Wind wehte, strömte er ruhig und leise murmelnd dahin, als sänge er sich selbst ein Lied. Drakonas musterte das Ufer und blickte über das Wasser. Ihn verwirrte es, dass ihm so gar nichts bekannt vorkam. So weit war er doch nicht abgetrieben.
Dann hob er den Kopf und blickte in den strahlenden Sonnenuntergang.
Aber die Sonne ging hinter ihm unter.
Mit einem deftigen Fluch schlug Drakonas gegen den harten Stamm eines Baumes.
Er stand auf der falschen Seite des Flusses.
Das hier war das Westufer. Edward und Melisande befanden sich auf der Ostseite.
Genau wie Grald.
25
Die umgestürzte Eiche fanden Edward und Melisande eher instinktiv und mit etwas Glück, denn keiner von beiden achtete auf den Weg, den Drakonas so sorgfältig markiert hatte. Arm in Arm und mit gleich langen Schritten liefen sie nebeneinander her.
Sie sprachen nicht von der Zukunft. Hier in der Wildnis, fernab von allen Menschen und ihren Werken, existierte keine Zukunft. Es gab nur sie beide. Nur für sie war die Welt erschaffen.
Es gab keine Vergangenheit, denn sie waren eben erst geboren. Sie hatten keine Zukunft, denn daran wollten beide nicht denken. In diesem Moment wollten sie nur leben, atmen und sich lieben.
Einen winzigen Augenblick hatte Edward das seltsame Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst fassungslos anzusehen. Er sah, wie sein zweites Ich eine Hand ausstreckte, ihn zurückhalten und wegziehen wollte. Doch im letzten Augenblick sackte die Hand herunter. Er würde fortfahren. Es war einfach Liebe, so wie sie sein sollte. Als er sich umsah, konnte er sich nicht mehr sehen. Darüber war er froh, denn eigentlich wollte er nur sie sehen, seine Geliebte.
Melisande hatte keine entsprechenden Visionen. Sie lebte für den Moment, für den nächsten Atemzug, den nächsten Herzschlag. Dadurch verbarg sie sich vor dem erschütternden Schmerz und dem Entsetzen der Vergangenheit. Alle, die sie je geliebt hatte, hatten sie verraten. Nun rannte sie vor ihnen davon, bis sie weder ihre Stimmen hören noch ihre Gesichter erkennen konnte. Es gab nur noch sein Gesicht, seine Hände, seine Liebe, die ihr versicherten, dass sie am Leben war, dass sie atmete und geliebt wurde.
Als sie die Eiche erreichten, zögerten plötzlich beide ganz verlegen. Die Vorfreude ließ ihr Herz schneller schlagen und brachte das Blut in Wallung, doch sie kannten einander kaum. Obwohl sie wussten, auf welchen Ausgang sie zusteuerten, und sich danach mit schmerzlicher Erwartung sehnten, wollte keiner so recht den Anfang machen.
»Du hast
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