Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
schwer wie anderen seiner Generation, beides zu vereinbaren, denn wie viel die Wissenschaft auch erklärte, sie lieferte nie das Warum und das Wie. Irgendwo in jeder Gleichung blieb Gott verborgen.
Edward war sicher gewesen, dass Gott ihn auf dieser heiligen Fahrt begleitete, doch jetzt hatte er das beunruhigende Gefühl, Gott im Vorzimmer zurückgelassen zu haben. Die Illusion, der Steinaltar mit den Drachen, das Auge, dessen Steinpupille ihn zu beobachten schien, das war alles wie im Traum, und Träume waren die ungesunden, fremdartigen Eskapaden des Verstandes, der nächtens dem sicheren Gefängnis der Zivilisation entfloh. Edward dachte an die Meisterin, die er retten wollte. Ihr hübsches Gesicht trat vor sein inneres Auge, und er erinnerte sich an die Geschichten der Priester, in denen das Böse eine verlockende Gestalt annahm, um die Seele eines Menschen zu zerstören. So lange man sicher zu Hause saß, konnte man dabei leicht die Augen verdrehen, doch hier, im Licht des duftenden Feuers und unter dem Blick dieses Steinauges, krampfte sich Edwards Magen zusammen, und sein Mund wurde trocken.
Sein Zögern währte nur einen Augenblick. Dann versetzte ihm der rationale, wissenschaftliche Teil seines Gehirns einen Kinnhaken, der dem realen Schlag von Drakonas gleichkam, und verjagte die Schreckensbilder seiner Kindheit. Auch hier gab es Schreckliches, aber dazu gehörte ein Mörder, und wenn das Böse überhaupt daran beteiligt war, dann in Form des Bösen, das in den Herzen der Menschen existiert.
Zügig, aber nicht kopflos, trat Edward über die Schwelle der offenen Tür und fand sich in einem grob behauenen Gang wieder. Vor ihm begann eine Treppe, die in den Fels getrieben war. Er nahm immer mehrere Stufen auf einmal, bis er oben eine Tür erreichte.
Diese Tür war geschlossen. Edward steckte die Fackel in eine eiserne Wandhalterung, um beide Hände frei zu haben. Dann prüfte er die Tür. Sie ging nach innen auf und war zu seiner freudigen Überraschung weder verschlossen noch in irgendeiner Form verriegelt. Wenn Drakonas dabei gewesen wäre, hätte er dem König erklären können, dass Schloss und Riegel an einem Ort voller Magie nicht nötig waren, doch Edward hatte davon keine Ahnung.
Er zog die Tür einen Spaltbreit auf, spähte in einen Gang und seufzte innerlich erleichtert auf. Das war keine Traumwelt mehr, das hier zeugte von Zivilisation. Polierte Marmorböden, vertäfelte Wände, geölte Möbel aus Rosenholz und Ebenholz. Die schimmernden Fäden eines feinen Wandbehangs auf der gegenüberliegenden Seite glänzten im Fackellicht. Als er aufsah, sah er einem Drachen in die Augen – in die gemalten Augen eines gemalten Drachenkopfs, der Teil eines kunstvollen Deckengemäldes war.
Der Gang war finster und leer.
Vorsichtig trat Edward in das Dunkel hinaus. Er ließ die Tür offen und überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte.
Rechts gähnte die Dunkelheit. Links fiel nicht weit von seinem Standpunkt aus ein Lichtschein aus einer offenen Tür, der einen warmen Schein auf den kalten Marmor warf.
Er hörte Atemzüge – das mühsame, flache Atmen eines Menschen, der entweder sehr alt oder sehr krank war, und er roch die stickige Luft des Krankenzimmers. Obwohl er angestrengt lauschte, nahm er weder einen weiteren Geruch noch ein anderes Geräusch war. In diesem Raum dort mit dem Menschen darin konnte er immerhin anfangen.
Edward langte an seinen Gürtel, zog sein Messer und steckte es fest zwischen die Tür und den Türrahmen, damit sie offen blieb. Dadurch konnte sie nicht zufallen und ihn vielleicht aussperren. Außerdem hatte er so auch Licht für den Rückweg.
Dicht an der Wand schlich er mit leisen Schritten den Gang hinunter. Der sanfte Lichtschein fiel schattenlos aus der Tür. Das angestrengte Atmen setzte nicht aus. Es war eine stille Nacht, doch irgendwann bemerkte Edward Regen, der auf das Dach prasselte.
Kurz vor dem Raum drückte er sich an die Wand und spähte über die Schulter in ein großes Zimmer voll luxuriöser Eleganz. Schwere Samtbehänge schmückten die Wände, und dicke, handgewebte Teppiche lagen warm und weich auf dem Steinboden. Auf der anderen Seite stand ein leerer Schreibtisch. Vor einem Fenster, das jedoch von dichten Vorhängen verdeckt wurde, standen vier Stühle mit hohen Lehnen einander paarweise gegenüber. Im ganzen Zimmer glitzerte es von edelsteinbesetzten Kästchen, silbernen Flakons oder vergoldeten Kelchen. Eine zierliche Öllampe auf einem
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