Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
saß sie da und starrte ins Leere. Auch bei Bellonas Eintreten drehte sie sich nicht um, obwohl sie die Schritte und das Knirschen der Rüstung sicher gehört hatte.
»Meisterin«, begann Bellona leise. Trotz aller Trauer jubelte ihr Herz dabei, Melisande mit ihrem neuen Titel anzusprechen.
Die Frau wandte den Kopf, legte die Hände an ihren Schleier und schlug ihn zurück.
In der Miene der Kommandantin mischten sich Staunen und Schrecken.
»Lucretta! Dich hatte ich hier nicht erwartet … Wo ist Melisande?«
Bellona war verwirrt, aber nicht besonders besorgt. Dennoch fand sie es seltsam, dass Melisande ausgerechnet Lucretta um Hilfe gebeten hatte, nicht eine der anderen Schwestern.
Von Kindesbeinen an war Lucretta auf Melisande eifersüchtig gewesen. Sie war weder hübsch noch charmant, sondern strahlte Feindseligkeit und Zynismus aus. Lucretta war einer jener Menschen, die davon überzeugt sind, dass andere heimlich schlecht über sie reden, eine große, hagere Frau mit knochigem, immer missgelauntem Gesicht. »Ich weiß, dass ihr mich hasst, und deshalb hasse ich euch zuerst«, schien sie sagen zu wollen. Obwohl sie erst achtundzwanzig Jahre alt war, wirkte sie wie vierzig, denn das viele Stirnrunzeln hatte bereits Falten gegraben.
Die Soldatinnen hatten ihr den Spitznamen »Eiserne Jungfer« verpasst, weil jede wusste, dass sie die Liebe scheute. Annäherungsversuche hatte sie nicht nur brüsk zurückgewiesen, sondern auch diejenigen, die es gewagt hatten, auf sie zuzugehen, mit scharfen Worten über die Sünden des Fleisches getadelt. Zugute halten konnte man Lucretta nur, dass sie sich mit Herz und Seele rückhaltlos der Schwesternschaft verschrieben hatte. Daher war sie lange der Meinung gewesen, dass sie die nächste Meisterin sein sollte, und hatte es Melisande sehr verübelt, als diese auserwählt wurde.
Auf Bellonas Fragen reagierte Lucretta nicht, sondern betrachtete die Kommandantin von oben herab mit einem unangenehmen, höhnischen Lächeln. An ihrem Hals blitzte etwas Goldenes. Als Bellona registrierte, dass es das Medaillon war, das einzig die Meisterin tragen durfte, wurde sie von kalter Furcht erfasst.
»Wo ist Melisande?«, wiederholte sie und kam einen Schritt näher.
»Eine berechtigte Frage, Kommandantin«, bemerkte Lucretta hochmütig und erhob sich. »Sie ist weg.«
Aus ihren zusammengekniffenen Augen, die ebenso verwaschen grau waren wie ihr Teint, blitzte innere Befriedigung. Sie hob die Hand und spielte mit dem Medaillon an ihrem Hals.
»Weg?« Bellona verstand überhaupt nichts mehr. »Was soll das heißen – sie ist weg?« Da kam ihr ein Gedanke: »Sie kümmert sich um die Bestattung.«
»Nein, keineswegs«, widersprach Lucretta. »Melisande hat das Kloster verlassen.« Sie legte eine Pause ein, um die Spannung zu steigern. Ganz offensichtlich genoss sie die Situation. »Melisande ist mit ihrem Liebhaber davongelaufen. Er hat sie heute Nacht abgeholt.«
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte Bellona nur.
Lucretta drehte sich um und streckte die Hand aus, um die Vorhänge zu teilen und einen Blick aus dem Fenster zu werfen, als hielte sie nach der Abtrünnigen Ausschau. »Es ist schon einige Stunden her. Wer weiß, wo sie inzwischen steckt.«
Bellona durchquerte den Raum. Es juckte ihr in den Fingern, die Schwester an ihrem mageren Hals zu packen und zu würgen.
»Wo ist Melisande? Was hast du ihr angetan? Sag es mir, beim Auge, sonst werde ich …«
»Was wirst du, Kommandantin?« Lucretta wandte sich wieder zurück und fixierte Bellona mit ihren stechenden Augen. »Deine weltlichen Hände an deine Meisterin legen?«
Mit geballten Fäusten funkelte Bellona sie an.
»Denn ich bin die Drachenmeisterin«, fuhr Lucretta mit abstoßender Selbstsicherheit fort. »Ich war bei der Meisterin, als sie starb. Ich habe die Verbrennung vollzogen. Ich habe ihre Asche verstreut. Melisande hat uns im Stich gelassen. Sie hat ihre Pflichten versäumt und wollte die Meisterin allein sterben lassen. Melisande hat die Meisterin verraten.« Mit einem wehmütigen Lächeln und Mitleid in der Stimme fügte sie hinzu: »Sie hat alle verraten, die sie je geliebt haben und ihr vertrauten.«
»Ich glaube dir kein Wort«, wiederholte Bellona. »So etwas würde Melisande nie tun. Sie hat die Meisterin geliebt. Sie hätte ihr Leben für sie gegeben. Niemals hätte sie die Meisterin allein sterben lassen.«
Misstrauisch fasste Bellona Lucretta ins Auge. Die Frau hatte sich verändert. So glattzüngig
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