Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
hatte sie nie gesprochen. Sie war auch nie so gebieterisch aufgetreten. Bellona machte einen Schritt auf sie zu. »Du hast ihr etwas angetan. Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht hast du sie umgebracht. Dein Hass hätte dazu ausgereicht. Ich werde der Sache nachgehen. Ob du die Meisterin bist oder nicht, ist mir gleich. Und da bin ich nicht die Einzige. Die Schwestern lieben Melisande, jede von ihnen. Dich mag hier niemand.«
»Was sie von mir halten, ist ihre Sache«, erwiderte Lucretta mit einer hochmütigen Ruhe, die Bellona wahnsinnig machte. »Ebenso wenig, was du von mir hältst. Bitte, geh der Sache nach. Damit schadest du nur deiner geliebten Melisande, nicht mir. Denn ich habe Beweise.«
Bellona wagte nicht, eine der Schwestern anzurühren, aber sie wollte sie wenigstens einschüchtern. So baute sie sich mit ihrem kräftigen, muskulösen Körper vor der knochigen Lucretta auf und brüllte sie aus nächster Nähe an: »Wo ist Melisande? Was hast du mit ihr gemacht?«
Lucretta verzog keine Miene. Gelassen blickte sie der Kommandantin in die Augen und wiederholte ruhig: »Ich habe Beweise. Wenn du dich wieder im Zaum hast, zeige ich sie dir. Ja, ich muss sie dir sogar zeigen. Denn du musst ihr nachsetzen und sie aufspüren und töten.«
Bellona starrte die andere an. Sie suchte die Lüge in ihren Worten, konnte sie aber nicht finden. Ihre Wut verpuffte. Ihr ganzer Körper wurde kalt und taub. Der Geschmack in ihrem Mund erinnerte an Asche, und ihr Herz hämmerte so sehr, dass es ihr den Atem verschlug. Sie konnte kaum noch denken, taumelte nach hinten, stieß gegen einen Tisch und blieb fassungslos stehen. Ihre Hände öffneten und schlossen sich abwechselnd, um die Taubheit in ihren Fingern zu überwinden.
»Zeig sie mir«, forderte sie mit Schmerz in der Stimme.
Wortlos verließ Lucretta den Raum. Bellona folgte ihr, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ihr Gehirn wollte den Beweis, ihr Herz lehnte sich dagegen auf. Sie musste es glauben, doch sie konnte es nicht. Schließlich kannte sie Melisande, kannte sie so gut wie sich selbst oder noch besser. Melisande war ein Teil von ihr, mehr als eine Freundin, näher als eine Schwester. Melisande, die warm und liebevoll und voller Begehren in ihren Armen lag. Zarte Küsse bei Nacht, weiches Erschauern, atemlose Leidenschaft. Und all das sollte eine Lüge sein? Hatte sie sich die ganze Zeit nach den Händen dieses Mannes gesehnt? Insgeheim seinen Namen geflüstert? War sie deshalb in den letzten zwei Wochen so matt gewesen – weil sie ihn nächtens getroffen hatte, um sich ihm hinzugeben?
Nachdem ihr Verdacht geweckt war, sah Bellona auf die gemeinsam verbrachte Zeit zurück. Plötzlich erschienen bestimmte Worte, die gefallen waren, unvollendete Sätze, manche Handlungen, die folgenlos blieben, in einem ganz anderen Licht. Schön und gut, mischte die Logik sich ein, aber auf welchem Wege war ihr Geliebter in das Kloster gelangt? Wo hatten sie sich heimlich getroffen? Das Kloster war gut bewacht. Niemand wusste das besser als Bellona, die auf die Treue und die Fähigkeiten ihrer Soldatinnen ihr Leben verwettet hätte. In der heulenden Finsternis ihrer inneren Pein keimte ein Hoffnungsschimmer auf. Erst wenn Lucretta das erklären konnte, würde sie ihr glauben.
Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, stellte sie fest, dass Lucretta sie ins Heiligtum des Auges führte, wo eine wahre Backofenhitze herrschte. Die Kohlebecken brannten lichterloh, und die Luft war voller Weihrauch. Aber darunter nahm Bellona Blutgeruch wahr, der sie beinahe zum Würgen gebracht hätte. Sie sah keine Spur davon, dass hier ein Körper verbrannt worden war, doch der Gestank war unverkennbar.
Auf dem steinernen Altar stand eine goldene Urne mit silbernen Intarsien. Nach einem kurzen Blick darauf schlug Bellona respektvoll die Augen nieder. In ihrem inneren Aufruhr wegen Melisande hatte sie ganz den Tod der Frau vergessen, die sie so viele Jahre geliebt und verehrt hatte. Die Scham darüber reihte sich in Bellonas Elend noch ein.
Lucretta trat an das Auge im Boden, drehte sich um und schaute Bellona erwartungsvoll an.
»Und?«, fragte diese herausfordernd. »Was soll ich hier?«
»Sieh in das Auge«, verlangte Lucretta.
Davor schreckte die Kommandantin zurück. »Du weißt, dass es mir nicht gestattet ist.«
»Ich erteile dir Dispens. Dieses eine Mal. Sieh in das Auge, und erkenne die Wahrheit. Sofern du sie nicht fürchtest.« Ein verächtlicher Zug umspielte Lucrettas
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