Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
sprachen, anstatt ihren Aufgaben nachzugehen. Sie prägte sich ein, die beiden später zur Rede zu stellen. Dann hastete sie zum Gebäude der Meisterin.
Die Wege waren nass und schlammig. Neben dem Eisengong lag ein Ast, den der Sturm abgerissen hatte. Als Bellona unter den Bäumen hindurchlief, hörte sie die Regentropfen, die auf ihrem Helm aufplatzten. Die triefnassen Rosenblüten hingen kläglich an ihren langen Stängeln, als würden sie das Dahinscheiden der Meisterin betrauern.
Die Posten an der Flügeltür, die zur Meisterin führte, salutierten, sobald Bellona sich näherte. Doch der sonst so zackige Gruß kam langsamer und feierlicher. Die Frauen bewegten sich vorsichtig, um möglichst wenig Geräusch zu verursachen.
»Daniela, was ist geschehen?«, erkundigte sich Bellona mit leiser Stimme.
»Ich weiß auch nichts Näheres, Kommandantin«, erwiderte die Soldatin gedämpft. »Als wir heute Morgen unseren Dienst antraten, kam eine der Schwestern und sagte, wir sollten dich augenblicklich rufen.«
»Eine der Schwestern?«, wiederholte Bellona. »Und du weißt nicht, welche?«
»Sie war verschleiert, Kommandantin«, teilte die Soldatin ihr mit. »Ihr Gesicht war nicht zu erkennen.«
»Dann muss die Meisterin tot sein«, folgerte Bellona. Alle Schwestern würden die Meisterin verschleiert betrauern und ihre Gesichter dreißig Tage lang bedeckt halten.
»Das haben wir auch vermutet, Kommandantin.«
Arme Melisande, dachte Bellona, als sie den düsteren Gang betrat. Sie musste das alles allein durchstehen. Wie schwer muss es für sie sein, die Totenwache zu halten und Abschied zu nehmen. Sicher ist sie erschöpft. Aber wir müssen dennoch Seine Majestät benachrichtigen und Vorbereitungen treffen, denn ganz Seth wird zum Kloster kommen, um der neuen Meisterin die Ehre zu erweisen. Ich muss aufpassen, dass Melisande auch etwas Schlaf bekommt, sonst wird sie noch krank.
Wenigstens würde es keine öffentliche Aufbahrung geben und keine feierliche Beisetzung.
Die Drachenmeisterin war für die Sicherheit von Seth so überaus bedeutsam, dass bereits die allererste verfügt hatte, dass niemand je den Leichnam der Meisterin zu sehen bekommen sollte.
»Die Drachenmeisterin ist zwar sterblich«, hatte die erste Meisterin erklärt, »aber in den Augen derer, deren Leben von ihr abhängt, darf sie nicht sterblich erscheinen. Sie müssen nur wissen, dass ihre Zukunft gesichert ist und dass sie stets nur eine lebende Meisterin sehen werden. Auf mein Geheiß wird der Körper der toten Meisterin unmittelbar nach ihrem Tode verbrannt. Nur die neue Meisterin darf dabei anwesend sein, und die Asche soll über dem heiligen Auge im Heiligtum verstreut werden.«
»Diesen Brauch fand ich immer eigenartig«, überlegte Bellona, während sie auf leisen Sohlen den viel zu stillen Gang entlangtappte. »Es erscheint so respektlos gegenüber der Toten. Aber jetzt begreife ich. Wenn die Menschen den Leichnam der toten Meisterin sehen würden, könnten sie zu zweifeln beginnen. Sie hätten vielleicht Angst. Sie würden sich fragen, ob die neue Meisterin ihrer Aufgabe überhaupt gewachsen wäre. So jedoch ist kein Raum für Zweifel. Die neue Meisterin steht schon bereit und sorgt sofort für sie.«
Bellona fragte sich, ob Melisande diese traurige Pflicht bereits erfüllt hatte. Wie und wo die Feuerbestattung ablief, war alles streng geheim. Nur Melisande würde darüber Bescheid wissen, und sie war durch einen heiligen Eid gebunden, nichts zu enthüllen, bis sie selbst auf dem Sterbebett lag.
Bedrückt und voller Mitgefühl erreichte Bellona die Tür zum Schlafzimmer der Meisterin. Dass diese offen stand, überraschte sie wenig. Melisande wartete auf sie. Sie würde die Verschiedene betrauern, sich jedoch im Griff haben. In dieser Hinsicht hatte Bellona keine Befürchtungen. Eine kurze Umarmung, gemeinsame Tränen, dann würden sie ihren neuen Aufgaben nachgehen und ihr Leben weiterführen.
Obwohl es draußen mittlerweile hell war, brannte hier noch eine Lampe. Die schweren Vorhänge waren noch immer geschlossen und tauchten den Raum in dichte Schatten. Als Bellona eintrat, warf sie einen Blick auf das Bett der Meisterin.
Es war leer. Mit einem tiefen Seufzer blinzelte die Kriegerin gegen ihre Tränen an.
Am Tisch saß eine Frau mit einem durchscheinenden, weißen Schleier über dem Kopf. Offenbar hatte sie etwas geschrieben, denn auf dem Tisch lagen Papierbögen, doch die Feder war ihrer Hand entglitten. Ernst und andächtig
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