Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Käfig des Monsters. Die Eisenstangen wurden leicht vom fernen Fackellicht beschienen. Evelina schob eine Falte des Tuchs zurecht, damit sie das Schloss richtig sehen und den Schlüssel hineinstecken konnte. Ehe sie öffnete, warf sie einen letzten misstrauischen Blick auf das Monster. Es lag mit geschlossenen Augen reglos auf dem schmutzigen Stroh.
»Und was ist in dem Wagen da?« Die Stimme der Nonne klang laut durch die Stille.
»In welchem, Schwester?«
»In dem verhüllten.«
Evelinas Hand mit dem Schlüssel gefror.
»Ach, der«, meinte Federfuß. »Wir mussten leider einen Kollegen einsperren, den ich erst in der letzten Stadt angeheuert habe. Wir haben zu spät entdeckt, dass der Mann ein Dieb ist. Wir sind ehrliche Leute, Schwester. Anders käme ein Wanderzirkus nicht über die Runden. Wir wollten ihn in der nächsten Stadt dem Sheriff übergeben, doch er bekam es mit und fing an zu randalieren. Hat einen meiner Männer angegriffen, vielleicht habt Ihr ihn gesehen? Den mit der gebrochenen Nase?«
Evelina sah Federfuß nicht, glaubte aber zu hören, wie er mit den Schultern zuckte.
»Wir mussten ihn einsperren. Dafür hatten wir nur den leeren Käfig, in dem früher der Löwe war.«
Evelina lächelte säuerlich. Ein überzeugender Lügner, dieser Mann. Sie drehte den Schlüssel. Das Schloss klickte. Das Mädchen zog sich an einem Gitterstab hoch, um in den Käfig zu steigen. Dort schüttelte sie die Decke auf und wollte sie über den Unterkörper des Monsters breiten.
Dabei sah sie auf.
Sie wurde angestarrt.
Es waren die offenen, dunklen Augen des Monsters, die bis auf zwei kleine Flämmchen leer wirkten. Die Lichtpunkte waren zu stetig, um ein Spiegelbild zu sein.
Erschrocken wich Evelina ans Gitter zurück. Die Panik schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie war hilflos. Der Schrei, der sie retten könnte, war der Schrei, der alles ruinieren würde. Die Mönche würden den Dämon finden. Federfuß würde ihr die Schuld geben und sie und ihren Vater davonjagen.
Doch das Monster rührte sich nicht. Es sprach kein Wort. Das war auch nicht nötig. Seine Augen waren beredt genug.
Zwanzig Taler.
Evelina verzog den Mund, trat einen Schritt näher und warf die Decke über Nem. Doch sie traf nicht richtig. Er war nur teilweise zugedeckt. Ein Knie und ein Schienbein mit glitzernden Schuppen waren unbedeckt.
Er hätte die Decke selbst zurechtziehen können, doch er rührte sich nicht.
Evelina atmete tief durch. Sie bückte sich, nahm den Zipfel der Decke zur Hand und zupfte sie zurecht. Wenn jetzt ein Mönch in den Käfig spähte, würde er keinen Dämon sehen, sondern nur einen dreckigen, stinkenden Dieb.
»Es ist in deinem eigenen Interesse, still zu sein, Monster«, zischte Evelina. »Spiel lieber mit. Sonst landest du auf dem Scheiterhaufen.«
Das Feuer in den Augen des Monsters zuckte nicht. Die Augen blinzelten nicht einmal. Keine Regung veränderte das Gesicht, das halb im Schatten lag. Evelina erschauerte. Sie war zutiefst verunsichert. Das Monster sah aus, als würde es seine Verbrennung begrüßen, wie manche Märtyrer angeblich ihren eigenen Tod noch mit halb verkohlten Armen begrüßt hatten. Evelina riss die Käfigtür auf und sprang hinaus.
Ihre Hände zitterten. Sie musste erst einmal innehalten, um sich zu beruhigen, so heftig klopfte ihr das Herz. Erst danach konnte sie wieder ins Fackellicht treten.
»Zwanzig Taler«, wiederholte sie innerlich. Sie sagte diese Worte vor sich hin, als wären sie die Perlen an einem Rosenkranz. Sobald es ihr besser ging, schlüpfte sie auf der Schattenseite unter der Verhüllung hervor. Dann schlenderte sie zu Federfuß hinüber, dem sie aufmunternd zulächelte.
19
Nem war von Finsternis umschlungen. Innerhalb der Umhüllung des Käfigs konnte er nichts erkennen. Die Stimmen, die er vernahm, klangen gedämpft und unklar. Er konzentrierte sich aufs Lauschen, um zu begreifen, was gesprochen wurde.
Die Worte konnten ihn nicht beruhigen, sondern erzeugten nur Angst. Eine sehr alte Angst, die irgendwo in den Tiefen seines Seins begraben gewesen war.
»Dämon … Teufel …«
Wieder war er ein Kind mit zerrissenen Hosen und einem nackten Bein. Blaue Schuppen glitzerten. Die Umstehenden begannen erschrocken zu flüstern.
Er erstarrte. Dann richtete er sich ein Stückchen auf.
Vor dem Käfig hörte er leise Schritte. Ein Schlüssel klickte im Schloss. Er roch Parfüm. Jetzt war da eine Stimme, die leise Selbstgespräche führte. Nem schloss die
Weitere Kostenlose Bücher