Das verbotene Land 2 - Drachensohn
zurückkehren. Sie waren im Freien. Es gab keinerlei Deckung, und der Sturm wurde immer schlimmer. Bellona schien nichts davon zu merken. Ihre Finger fuhren den Namen nach, der in den Fels eingebrannt war. Die Fingerspitzen waren blutig, denn die Buchstaben schnitten ihr ins Fleisch. Markus zog die Kappe über das Gesicht und die Schultern hoch, um sich etwas vor dem Regen zu schützen.
»Wo ist mein Bruder?«, wollte er wissen. Er musste die Stimme erheben, um sich im Tosen des Sturms Gehör zu verschaffen. »Was ist aus ihm geworden?«
Ihr Blick war kalt. »Das habe ich gerade versucht zu erzählen. Hast du nicht zugehört?«
»Tut mir Leid.« Markus reagierte etwas gereizt. »Das war ein Schock für mich. Auf so etwas war ich nicht gefasst.«
Insbesondere nicht auf dieses schreckliche Ende nach dem beglückenden, freiheitsdürstenden Auftakt dieser Reise. Er hatte oft davon geträumt, sich auf sein Pferd zu schwingen und aus dem Palast hinaus in die sternklare Nacht zu galoppieren. Diesen Traum wahr werden zu lassen, hatte ihn begeistert. Doch hier am Grab hatte der Traum gebuckelt, ihn unsanft abgeworfen und war davongerannt. Angeschlagen war Markus zurückgeblieben, um unter Schmerzen wieder nach Hause zu humpeln.
Doch wo lag seine wahre Heimat?
»Diesmal höre ich zu.« Erschöpft setzte er sich auf das Grab. Seine Hand lag auf dem scharfkantigen Namen seiner Mutter.
Bellona begann von vorne. Ihm wurde klar, dass ein Teil von ihm doch zugehört haben musste, denn er erkannte die Geschichte wieder, wie jemand ein geliebtes Märchen erkennt.
Nem wurde ausgeraubt. Nem brach auf, um die Räuber zu finden und sein Geld wiederzubekommen. Nem wurde eingewickelt, entführt …
»Sie halten ihn irgendwo gefangen«, schloss Bellona.
»Nein.« Markus sprach, ohne nachzudenken. »Er ist kein Gefangener.« Der Prinz betrachtete die dunklen Wolken, zwischen denen Blitze über den Himmel zuckten. »Er wird nicht gegen seinen Willen festgehalten. Wo er auch ist, er will dort sein.«
Die kalten Tropfen verdampften auf den heißen Steinen und tauchten das Grab in geisterhaften Nebel. Wasserbäche rannen über den Namen seiner Mutter.
»Ich wusste es!« Bellona lächelte triumphierend. »Ich wusste, dass du ihn finden würdest.«
Markus wollte widersprechen. Er glaubte nicht, dass er jemanden gefunden hätte. Er wusste nicht, wo sein Bruder war. Wie auch? Bis vor einer Stunde hatte er nicht einmal gewusst, dass dieser Bruder existierte.
»Jetzt weißt du es«, sagte eine Stimme in seinem kleinen Raum. »Du kannst mich finden, wenn du willst. Ich warte schon lange auf dich.«
Markus blickte flussaufwärts, nach Norden, zu den fernen Bergen hin, in denen das Reich Seth verborgen lag. Die Berge waren nicht zu sehen. Ihr Gestein war vom Regen verhüllt, doch er konnte sie erkennen, denn innerlich waren sie nun sein Horizont.
»Dort, in Richtung Berge. Aber nicht ganz bis zu den Bergen.«
Stirnrunzelnd konzentrierte er sich. »Der Fluss gabelt sich. Es gibt da eine Höhle, halb im Wasser.«
»Ja«, bestätigte Bellona. Ihr hageres Gesicht leuchtete eifrig auf. »Von dieser Höhle hat Melisande erzählt. Sie hatte das Gefühl, dass sie mit Drachen zu tun hätte.«
»Er ist in die Höhle gegangen«, berichtete Markus. »Aber er ist nicht wieder herausgekommen.«
»Dann weiß ich, wo ich anfangen muss zu suchen«, antwortete Bellona. »Danke für deine Hilfe«, fügte sie schroff hinzu. »Ich hoffe, du bekommst nicht zu viel Ärger mit deinem Vater wegen dieser Geschichte.«
Sie nahm ihre Sachen, drehte sich um und hielt auf den Fluss zu. Ihr abrupter Abschied stieß Markus vor den Kopf.
»Halt!«, rief er und stürmte durch das hohe, nasse Gras. »Warte, Bellona. Ich komme mit.«
»Das ist nicht nötig. Du hast genug getan. Mehr als genug.« Bellona deutete auf das Grab. »Du hast es für deine Mutter getan, und sie ist mit dir zufrieden. Es wird Zeit, dass du zu deinem Vater zurückkehrst, in das Leben, das er für dich vorgesehen hat.«
»Ich komme mit«, wiederholte Markus. »Ich will meinen Bruder kennen lernen.«
Bellona runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob er dich kennen lernen will.« Sie musterte den Prinzen von Kopf bis Fuß. »Du bist alles, was er sein möchte. Er wird dir wenig dankbar sein. Und er wird dich deswegen nicht besonders lieben.«
Markus hätte am liebsten aufgelacht. »Er will sein wie ich? Den ganzen Tag Verben konjugieren? Oh, da ließe sich sicher etwas
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