Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
Vom Netzwerk:
dazu, also insgesamt ein und eine viertel Stunde. Wir haben demnach noch vierzig Minuten Zeit.«
    Vater Plantat antwortete nicht, doch Lecoq begriff, daß er unmöglich noch länger durchhalten würde nach den Aufregungen des Tages und seit dem Morgen ohne Essen. Er zog ihn deshalb mit sich in ein Café und zwang ihn, ein Croissant zu essen und ein Glas Wein zu trinken. Und da er spürte, daß jedes Gespräch mit dem leidenden Mann unangebracht war, griff er selbst zur Zeitung und vertiefte sich anscheinend voller Interesse in die Nachrichten aus Deutschland. Es schlug neun Uhr. Monsieur Lecoq legte die Zeitung auf den Tisch.
    Â»Wir brechen auf«, sagte er.
    Vater Plantat folgte ihm. Er schien sich etwas beruhigt zu haben. Und so erreichten sie bald, von den Männern um Monsieur Job begleitet, das Haus, in dem Wilson wohnte. »Ihr wartet hier, bis ich euch rufe«, sagte Monsieur Lecoq zu ihnen.
    Beim ersten Klingeln schon öffnete sich die Eingangspforte, und Vater Plantat und der Beamte der Sûreté betraten die Durchfahrt. Der Portier stand auf der Schwelle seiner Loge.
    Â»Monsieur Wilson?« fragte Lecoq.
    Â»Er ist abwesend.«
    Â»Dann werde ich mit Madame sprechen.«
    Â»Ist ebenfalls abwesend.«
    Â»Sehr gut! Doch da ich unbedingt mit ihr sprechen muß, gehe ich trotzdem hoch.«
    Der Pförtner schickte sich an, ihn daran zu hindern, doch Monsieur Lecoq hatte seine Männer herbeigerufen, und der Mann begriff sofort, daß es wohl besser sei, sich nicht weiter zu sperren.
    Der Polizeibeamte postierte sechs seiner Männer im Hof, und zwar so, daß man sie aus den Fenstern des ersten Stockes sehen konnte, und befahl den anderen, sich auf dem Bürgersteig vor dem gegenüberliegenden Haus aufzustellen. Dabei schärfte er ihnen ein, das Haus aufmerksam zu bewachen. Nachdem dies getan war, wandte er sich wieder an den Portier.
    Â»Und du, Verehrtester, keine Fisimatenten. Wenn dein Herr zurückkommt, so hüte dich, ihm zu stecken, daß das Haus umstellt ist und wir oben sind. Ein einziges Wort, und es ergeht dir schlecht...«
    Gesichtsausdruck und Tonfall von Monsieur Lecoq waren so einschüchternd, daß sich der Portier schon im finstersten aller Gefängnisse schmachten sah.
    Â»Ich bin blind und stumm«, sagte er kleinlaut.
    Â»Wieviel Dienstboten sind im Haus?«
    Â»Insgesamt sind wir drei, aber außer mir ist keiner da.« Der Beamte der Sûreté ergriff Vater Plantat am Arm, zog ihn mit sich und sprach ihm Mut zu:
    Â»Wie Sie sehen, spricht alles für uns. Also kommen Sie. Im Namen von Mademoiselle Laurence: Mut!«
    * * *
    A lle Vorhersagen von Monsieur Lecoq hatten sich bewahrheitet. Laurence war nicht tot, ihr Brief an die Familie war nur eine schändliche Täuschung. Und natürlich war sie es, die unter dem Namen einer Madame Wilson in dem Haus wohnte, das Vater Plantat und der Polizeiagent soeben betreten hatten.
    Wie bloß war das schöne und vornehme junge Mädchen, das von dem Friedensrichter von Orcival so abgöttisch geliebt wurde, hierhergeraten? Nun, so ist die Logik des Schicksals, das all unsere Entschlüsse fatal miteinander verknüpft. Oft kann eine beliebige, mitnichten strafbare Handlung der Ausgangspunkt eines Verbrechens sein. Jeder neue Entschluß hängt von dem vorherigen ab und ist letztlich in gewisser Weise die mathematische Konsequenz des Ganzen, wie die Totalsumme einer Addition das Produkt der vorherigen Ziffern ist.
    Wenn man nach dem ersten Fehltritt am Rande des Abgrundes steht und nicht sofort kehrtmacht, ist es um einen geschehen. Bald schon unterliegt man der unwiderstehlichen Anziehung der Tiefe, man gleitet aus, man ist verloren. Umsonst mag man in lichten Augenblicken unglaubliche Anstrengungen unternehmen, um diesem Abgrund zu entgehen, es wird einem nicht gelingen, ja, es kostet schon unerhörte Anstrengung, den endgültigen Sturz hinauszuzögern. Was man auch unternimmt, man stürzt immer schneller, immer tiefer, bis man schließlich ganz unten aufschlägt.
    Trémorel war kein unversöhnlicher Mörder, er war nur schwach und unentschlossen; und dennoch hatte er abscheuliche Verbrechen begangen. All seine Schuld resultierte aus jenem ersten Gefühl von Neid gegenüber Sauvresy, das zu bezwingen er sich nicht bemühte. Gott hat dem Meer befohlen: Bis hierher und nicht weiter; aber er war nicht der Charakter, der wußte, wie weit er

Weitere Kostenlose Bücher