Das Verbrechen von Orcival
gehen durfte.
Und so war auch Laurence an dem Tag verloren, da sie, ohne es ihrer Mutter zu gestehen, Trémorels Händedruck erwiderte. Der Händedruck hatte sie dazu gebracht, ihren Selbstmord zu erfinden, um mit ihrem Geliebten fliehen zu können; er konnte auch noch mit einem Kindesmord enden.
Allein zurückgeblieben, bemühte sich Laurence, den Lauf der seit einem Jahr über sie hereingebrochenen Ereignisse zu begreifen. Ihr war, als sei sie von einem Wirbelsturm hinweggetragen worden und habe nicht eine Sekunde Zeit gehabt, sich zu sammeln, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie fragte sich sogar, ob sie nicht das Opfer eines häÃlichen Traumes geworden sei und früher oder später in ihrem hellen, heiteren Jungmädchenzimmer in Orcival wieder aufwachen würde. War sie das denn wirklich, die hier in einem unbekannten Haus wohnte, für alle Welt tot, unter falschem Namen, ohne Familie, ohne Freunde, ohne irgend jemand, der ihr in ihrer Schwäche beistehen könnte; auf Gnade und Ungnade einem Manne ausgeliefert, der schon morgen die fragilen Bande einer Laune, die ihn heute noch kitzelte, sprengen würde. War sie das wirklich, die unter ihrem Herzen neues Leben spürte, die Mutter werden würde und die vor dieser Mutterschaft, dem Stolz jeder jungen Frau, schamrot wurde. Tausend Erinnerungen an ihre vorherige Existenz quälten sie. Sie dachte an ihre früheren Freundschaften, an ihre Mutter, ihre Schwester, an die unschuldigen Freuden des elterlichen Heims. Halb zusammengekauert saà sie auf dem Sofa und weinte. Sie beweinte ihr Leben, das mit zwanzig Jahren aus der Bahn geworfen worden war, ihre verlorene Jugend, ihre enttäuschten Erwartungen, die Wertschätzung der Welt, ja, ihre eigene Selbstschätzung, die sie nie wiedererlangen würde.
Plötzlich wurde die Zimmertür aufgeklinkt.
Laurence glaubte, Hector käme zurück. Schnell wischte sie mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, um die Tränenspuren zu tilgen. Auf der Schwelle stand ein Mann, den sie nicht kannte â Monsieur Lecoq â und verbeugte sich beflissen.
Sie hatte Angst. Wie oft hatte ihr Trémorel seit zwei Tagen wiederholt: »Man verfolgt uns.«
»Wer sind Sie?« fragte sie atemlos. »Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzudringen? Was wollen Sie?«
Monsieur Lecoq gehört zu den Menschen, die nichts dem Zufall überlassen, die alles voraussehen, die jedes Ereignis im Leben wie eine Bühnenszene gestalten. Er hatte diesen berechtigten Zorn erwartet, diese Fragen, und wuÃte, wie er ihnen begegnen würde. Statt einer Antwort trat er zur Seite und gab den Blick auf Vater Plantat frei, der hinter ihm stand.
Als Laurence ihren väterlichen Freund sah, wurde sie blaÃ.
»Sie«, stammelte sie bloÃ, »Sie...«
Möglicherweise war der alte Richter sogar aufgewühlter als sie. War das wirklich seine Laurence, die da vor ihm stand. Vor Kummer schien sie gealtert, ihre Schwangerschaft war deutlich zu sehen.
»Warum suchen Sie mich?« sagte sie. »Warum fügen Sie meinem Dasein weiteren Schmerz hinzu? Ach, ich hatte es Hector gesagt, daà man diesem Brief, den er mir diktierte, nicht glauben würde.«
Vater Plantat wollte etwas erwidern, aber Monsieur Lecoq kam ihm zuvor.
»Wir suchen nicht Sie, Madame«, sagte er, »wir suchen Monsieur de Trémorel.«
»Hector! Und weshalb, bitte?«
In dem Augenblick, da er dieser unglücklichen Frau, die sich nur schuldig gemacht hatte, indem sie einem Lügner glaubte, die Wahrheit sagen sollte, zögerte Monsieur Lecoq. Und dennoch glaubte er, daà die Wahrheit in jedem Fall weniger grausam als schonende Rücksicht war.
»Monsieur de Trémorel«, erwiderte er, »hat ein groÃes Verbrechen begangen.«
»Er...! Sie lügen, Monsieur.«
Der Detektiv schüttelte traurig den Kopf. »Ich sage die Wahrheit, leider«, meinte er. »Monsieur de Trémorel hat in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag seine Frau ermordet; ich bin Polizeibeamter, ich habe Befehl, ihn zu verhaften.«
Er vermutete, daà diese schreckliche Anklage Laurence niederschmettern und umwerfen würde. Er täuschte sich. Sie war auÃer Fassung, aber nicht kopflos. Das Verbrechen erschreckte sie, aber es schien ihr nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein, denn sie verstand Hectors Haà auf Berthe nur zu gut.
»Nun, und wenn!« rief sie voller
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