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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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kein leichtes Spiel mit mir, sollte ich noch wach sein. Ich weiß nicht, was ich tun würde, möglicherweise würde man mich umbringen, aber gewiß würde es mir vorher noch gelingen, Lärm zu schlagen. Ich würde mich verteidigen, schreien, die Fenster aufreißen, Feuer ans Haus legen.« Was würdet ihr wohl sagen, ihr Gerichtssassen von Orcival, wenn ihr euern unbewegten Friedensrichter so leidenschaftlich erlebt hättet?
    Â»Bedenken wir ferner«, sagte Doktor Gendron, »daß es sehr schwierig ist, überrascht zu werden, wenn man munter ist. Irgendein verdächtiges Geräusch warnt einen ja immer. Eine Tür, die in ihren Angeln quietscht, eine Stufe, die knarrt. So geschickt auch ein Mörder sein mag, sein Opfer schlägt er selten überraschend nieder.«
    Â»Es kann ja sein«, gab Monsieur Courtois zu bedenken, »daß man sich einer Feuerwaffe bedient hat. Sie sitzen ruhig im Zimmer, es ist Sommer, die Fenster sind weit geöffnet, man schwatzt mit seiner Frau und trinkt dabei Tee, draußen steigen die Verbrecher mit Hilfe einer Leiter bis zum Fenster hoch, man legt das Gewehr oder die Pistole an, zielt, drückt ab...«
    Â»Und die ganze Nachbarschaft wird munter und kommt angerannt«, meinte der Doktor.
    Â»Erlauben Sie, erlauben Sie«, widersetzte sich Monsieur Courtois, »in der Stadt, in einer belebten Gegend, gewiß. Aber hier inmitten eines ausgedehnten Parkes, nein. Bedenken Sie die einsame Lage des Anwesens. Das nächste benachbarte Haus ist das der Comtesse de Lanascol, und selbst das ist noch fünfhundert Meter entfernt, und zwar Luftlinie, außerdem stehen dazwischen viele große Bäume, die den Ton abschwächen. Versuchen wir es. Wenn Sie wollen, werde ich hier, in diesem Zimmer, eine Pistole abschießen, und ich wette, daß Sie den Knall nicht einmal auf dem Weg hören.«
    Â»Am Tag vielleicht, aber nachts!«
    Â»Also, meine Herren«, beendete Monsieur Domini den Disput, »wenn sich Guespin nicht bereit erklärt, heute abend oder morgen zu reden, so wird uns der Leichnam des Comte die nötigen Aufschlüsse geben.«
    Â»Ja«, erwiderte Vater Plantat, »ja gewiß..., wenn man ihn findet.«
    Während dieser langen Diskussion war Monsieur Lecoq in seiner Untersuchung fortgefahren, hatte da die Möbel angehoben, dort die Bruchstellen studiert, die allerkleinsten Scherben aufgelesen, als könnten sie ihm die Wahrheit sagen.
    Manchmal holte er aus einem Lederetui, in dem eine Lupe und mehrere Gegenstände von bizarrer Form lagen, einen am Ende gebogenen Stahlstift heraus, mit dem er in den Schlössern herumstocherte.
    Auf dem Teppich sammelte er mehrere Schlüssel, die er nebeneinanderlegte, und auf einem Trockner fand er eine Serviette, die etwas Bemerkenswertes aussagen mochte, denn er steckte sie ein. Er kam und ging, vom Schlafzimmer in das Arbeitszimmer des Comte, ohne je ein Wort über das zu verlieren, was er tat; er beobachtete, notierte, sammelte. Wenn bei einer Untersuchung wie der in Orcival mehrere mit der Justiz vertraute Personen aufeinandertreffen, dann halten sie sich zurück. Sie wissen, daß sie fast alle gleichermaßen erfahren, umsichtig, aufmerksam sind und gleicherweise ein Interesse daran haben, die Wahrheit herauszukriegen. Sie sind nur schwer zu verblüffen, und die natürliche Umsicht eines jeden von ihnen steigt mit der Wertschätzung, die er für die Kombinationsgabe und den Scharfsinn der anderen hat.
    Es kann sehr gut sein, daß jeder von ihnen die Fakten anders interpretiert, ja daß sogar über das Motiv des Verbrechens unterschiedliche Ansichten kursieren; ein oberflächlicher Beobachter würde von diesen Meinungsverschiedenheiten jedoch nichts bemerken. Während jeder dabei mit seiner Meinung hinter dem Berg hält, versucht er andererseits, hinter die seines Nächsten zu kommen, und diesen, sollte er anderer Meinung sein, von seiner eigenen zu überzeugen, ohne sich deswegen gleich rückhaltlos zu offenbaren. Die enorme Bedeutung eines einzigen Wortes mag dieses Zögern erklären. Die Männer, in deren Händen die Freiheit und das Leben anderer liegen und die mit einem Federstrich eine ganze Existenz vernichten können, spüren sicher mehr, als man zu glauben geneigt ist, die Verantwortung, die auf ihnen lastet. Und wenn sie spüren, daß diese Bürde geteilt ist, empfinden sie ungeheure

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