Das Verbrechen von Orcival
zwanzig«, murmelte Monsieur Lecoq, wobei er einen kleinen Span unter den Sockel schob, »um diese Zeit trinkt man doch keinen Tee mehr, zum Teufel! Noch weniger bringt man um diese Zeit im Juli Leute um.«
Er öffnete nicht ohne Mühe die Verglasung und rückte den groÃen Zeiger auf halb vier vor.
Die Uhr schlug elfmal.
»Hab ich es mir doch gedacht!« rief Monsieur Lecoq triumphierend. »Da haben Sie die Wahrheit!«
Und indem er aus seiner Rocktasche eine Büchse mit Bonbons holte und sich eines davon in den Mund steckte, sagte er:
»PossenreiÃer!«
Die Einfachheit, die genaue Zeit zu kontrollieren, verblüffte die Anwesenden, denn daran hatte keiner von ihnen gedacht.
Besonders Monsieur Courtois war aufs höchste verwundert.
»Na, so was«, sagte er zu dem Doktor, »der Schlingel arbeitet ja mit allen Tricks.«
» Ergo «, ergriff Lecoq wieder das Wort, diesmal in Latein, »wir haben es nicht nur mit brutalen Mördern zu tun, wie ich zunächst glaubte, sondern mit Spitzbuben, die weiter als nur bis zu ihrer Nasenspitze gucken können. Sie haben ihr Vorgehen schlecht kalkuliert, aber gerechterweise muà man ihnen zubilligen, daà sie überhaupt kalkuliert haben. Sie hatten vor, die Untersuchung auf eine falsche Spur zu lenken, als sie die Uhrzeit veränderten.«
»Ich weià nur nicht, zu welchem Zweck«, beharrte Monsieur Courtois.
»Das ist allerdings recht offensichtlich«, erwiderte Monsieur Domini. »Denn es lag im Interesse der Mörder, glauben zu machen, daà das Verbrechen begangen wurde, nachdem der letzte Zug nach Paris abgefahren ist. Guespin konnte, nachdem er seine Gefährten um neun Uhr am Lyoner Bahnhof verlassen hatte, um zehn wieder hier sein, seine Herrschaft ermordet, das Geld an sich gebracht haben und mit dem letzten Zug wieder nach Paris gefahren sein.«
»Diese Vermutung hat etwas für sich«, gab Vater Plantat zu bedenken. »Aber warum ist denn Guespin nicht zu den Weplers in die Batignolles zurückgekommen, um sich dort mit seinen Kameraden zu treffen; bis zu einem gewissen Punkt wäre das so etwas wie ein Alibi gewesen.«
Seit sie die Schlafgemächer betreten hatten, saà Doktor Gendron auf dem einzigen intakten Stuhl und dachte über das plötzliche Unwohlsein nach, das Vater Plantat befallen hatte, als der Name Robelot fiel. Die Erklärungen des Untersuchungsrichters rissen ihn aus seinen Gedanken. Er erhob sich.
»Da ist noch etwas«, sagte er, »diese zeitliche Vorverlegung, die Guespin zugute kommt, kann für das Tönnchen, seinen Komplizen, sehr belastend werden.«
»Aber es kann ja durchaus sein, daà das Tönnchen gar nicht gefragt wurde«, erwiderte Monsieur Domini. »Und was Guespin betrifft, so hatte er sicher gute Gründe, nicht zur Hochzeit zu gehen. Seine offenkundige Verwirrung nach einer so schändlichen Tat hätte ihm mehr geschadet als seine Abwesenheit.«
Monsieur Lecoq entgegnete nichts auf diese Vermutungen. Wie ein Arzt am Krankenbett wollte er erst seiner Sache sicher sein. Er war zum Kamin zurückgegangen und spielte erneut an den Zeigern der Uhr. Nacheinander schlugen sie halb zwölf, dann zwölf, halb eins, eins. Während er die Zeiger vorrückte, brummte er:
»Lehrbuben! Gelegenheitsdiebe! Man denkt, man ist gerissen, aber dabei denken sie eben nicht an alles. Man rückt die Zeiger vor, denkt aber nicht daran, sie mit dem Läutwerk in Ãbereinstimmung zu bringen. Da muà erst einer von der Sûreté kommen, ein gerissener Fuchs, der seine Pappenheimer kennt, und das Ding fliegt auf.«
Monsieur Domini und Vater Plantat schwiegen. Monsieur Lecoq ging auf sie zu. »Der Herr Untersuchungsrichter«, sagte er, »kann gewià sein, daà der Ãberfall vor halb elf Uhr stattgefunden hat.«
»Zumindest«, gab Vater Plantat zu bedenken, »wenn das Läutwerk nicht defekt war, was manchmal vorkommt.«
»Das kommt sogar sehr oft vor«, pflichtete ihm Monsieur Courtois bei, »die Uhr in meinem Wohnzimmer ist seit Ewigkeit in so einem Zustand.«
Monsieur Lecoq überlegte. »Möglich«, erwiderte er, »daà der Herr Friedensrichter recht hat. Für mich spricht die Wahrscheinlichkeit, aber zu Beginn einer Untersuchung darf man sich nicht auf die Wahrscheinlichkeit verlassen, da braucht man GewiÃheit. Es bleibt uns glücklicherweise ein Mittel, um
Weitere Kostenlose Bücher