Das Verbrechen von Orcival
Anwalt gewiÃ, der ihre Sache vertritt.«
Der alte Friedensrichter, ein Mann aus Erz, wie Monsieur Courtois stets zu sagen pflegte, errötete leicht und war ob seiner lebhaften Parteinahme ein wenig verlegen.
»Ihre Sache verteidigt sich von selbst«, erwiderte daraufhin der Friedensrichter etwas ruhiger. »Mademoiselle Courtois gehört zu jenen jungen Frauen, die über jeden Verdacht erhaben sind. Es sind ja hauptsächlich jene böswilligen Behauptungen, die kein Gesetz unterbinden kann, die mich aufregen. Sie müssen bedenken, meine Herren, daà unser Ansehen, die Ehre unserer Frauen und Töchter von dem erstbesten Lumpenkerl abhängen, der genug Einbildungskraft besitzt, um sich einen Makel auszudenken. Man wird ihm vielleicht gar nicht glauben, aber was tut das schon, man wird seinen Tratsch wiederholen, ihn weiterverbreiten. Was kann man dagegen tun? Wissen wir denn, wie man insgeheim über uns redet, erfahren wir es überhaupt jemals?«
»Na, na, na«, entgegnete Doktor Gendron, »was kümmert uns das schon? Für mich gibt es nur eine ernstzunehmende Stimme, die des Gewissens. Denn was man die öffentliche Meinung nennt, ist ja insgesamt nur die Summe von Meinungen Tausender Dummköpfe und Böszüngler, und um die schere ich mich einen Dreck!«
Die Diskussion hätte sich möglicherweise in die Länge ziehen können, wenn nicht der Untersuchungsrichter seine Uhr aus der Tasche gezogen und eine unwillige Geste gemacht hätte.
»Wir reden und reden«, sagte er, »und die Zeit läuft uns weg. Teilen wir uns wenigstens die Arbeit, die noch zu tun bleibt«
Man kam daraufhin überein, daà Monsieur Domini einen ersten Bericht entwerfen würde, während Doktor Gendron die Autopsie vornahm.
»Endlich«, sagte der Beamte von der Sûreté, nachdem er mit dem Friedensrichter allein war, und seufzte dabei, als wäre ein schwerer Druck von ihm gewichen, »endlich können wir uns an die Arbeit machen.«
Vater Plantat lächelte. Monsieur Lecoq schob sich noch ein Bonbon in den Mund und erklärte: »Zu einer Untersuchung erst später hinzuzukommen, ist immer unangenehm, Herr Friedensrichter, sehr unangenehm. Die Leute, die vor einem da waren, haben Zeit gehabt, sich den Hergang der Tat zu erklären, und wenn sie nicht mit ihnen einer Meinung sind, ist es die Hölle!«
Sie hörten, wie Monsieur Domini nach seinem Schreiber rief, der inzwischen aus Corbeil eingetroffen war und in der Gesindestube wartete.
»Nehmen Sie doch nur den Untersuchungsrichter«, fuhr Monsieur Lecoq fort, »er meint, einen simplen, leicht lösbaren Fall vor sich zu haben, während ich, Lecoq, der Lieblingsschüler von Monsieur Tabaret«, er warf sich eitel in die Brust, »und diesem komischen Vogel von Gévrol zumindest ebenbürtig, überhaupt noch nicht klarsehe.«
Er hielt plötzlich inne und überlegte zweifellos, zu welchen Resultaten er bisher gekommen war, dann sagte er: »Nein wirklich, ich drehe mich im Kreise, ich vermute hinter all dem irgend etwas, aber was, aber was?«
Vater Plantats Gesicht blieb unbeeindruckt, aber sein Auge blitzte. »Vielleicht haben Sie recht«, pflichtete er bei und schlug die Augen nieder, »vielleicht steckt da wirklich mehr dahinter.
Der Polizeibeamte schaute ihn an und rührte sich nicht. Er hatte die nichtssagendste Miene der Welt und notierte sich etwas in sein Notizheft, wobei er in dem nun einsetzenden langen Schweigen dachte: Sieh an, sieh an, dieser ehrenwerte Herr ist ein alter Pfiffikus, auf dessen Mienenspiel man achten sollte. Jedenfalls teilt er nicht die Ansicht des Untersuchungsrichters. Er hat eine Idee, die er uns aber nicht anzuvertrauen wagt, aber wir werden schon dahinterkommen. Gerissen, dieser Landrichter. Hat mich auf den ersten Blick durchschaut, trotz der hübschen blonden Haare. Solange er glaubte, daà ich Monsieur Dominis Meinung war, hatte er Einwände; dann spürte er, daà ich etwas anderes vermutete, und bestärkte mich darin, wies mir gewissermaÃen den Weg. Und nun hat er das Gefühl, daà ich auf der richtigen Spur bin, und zieht sich zurück. Er will mir den Ruhm überlassen, es zu entdecken. Warum? Er wohnt hier. Hat er Angst, sich Feinde zu machen? Nein. Er gehört zu den Männern, die sich vor nichts fürchten. Was dann? Er hat Angst vor seinen Gedanken. Irgend etwas hat er herausgefunden.
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