Das Verbrechen von Orcival
Auftrag von einer Frau erhalten mit dem ausdrücklichen Vermerk, ihn dem SchloÃherrn persönlich zu übergeben. In dem Brief stand folgendes:
Monsieur,
Sie würden einem armen, unglücklichen Mädchen einen unschätzbaren Dienst erweisen, wenn Sie sich die Mühe machten, morgen nach Corbeil ins Hotel Belle-Image zu kommen, wo man den ganzen Tag auf Sie warten wird. Ihre ergebene Dienerin Jenny Fancy.
Und dann war da noch ein Postskriptum:
Ich beschwöre Sie, Monsieur, kein Wort über meinen Schritt zu Hector de Trémorel.
Am nächsten Tag erwartete ihn Jenny in dem groÃen Zimmer, das man stets für sie reserviert hatte. Ihre Augen waren rotgeweint, sie sah bleich aus und wirkte übernächtigt. Auf dem Tisch nahe dem Kamin stand noch ihr Frühstück, das sie nicht angerührt hatte. Als Sauvresy eintrat, erhob sie sich, reichte ihm die Hand und sagte:
»Danke, daà Sie gekommen sind. Sie sind so gut.«
Und da Jenny wieder weinte, als sie ihm die Hand gab, sagte er: »Mut. Nur Mut.«
Sie blickte ihn aus groÃen, tränenfeuchten Augen an. »Sie wissen es also?« fragte sie.
»Ich weià nichts, denn auf Ihre Bitte hin habe ich Trémorel nichts gesagt, aber ich ahne, worum es geht.«
»Er will mich nicht wiedersehen, er jagt mich davon.« Sauvresy zog einen Stuhl zu Jenny und setzte sich.
»Sehen Sie mal, mein Kind«, meinte er väterlich, »Sie müssen stark sein. Ihr Verhältnis ist nicht dauerhaft gewesen. Im Leben kommt einmal die Stunde, wo man wohl oder übel auf die Stimme der Vernunft hören muÃ. Hector verjagt Sie nicht, das wissen Sie sehr gut, aber er hat die Notwendigkeit erkannt, seine Zukunft in die Hand zu nehmen und sein Dasein auf die soliden Grundfesten der Familie zu stützen, er braucht ein Heim...«
»Glauben Sie daran«, unterbrach sie ihn, »daà Hector sich um seine Zukunft sorgt? Ich merke, Sie wissen nichts von seinem Charakter. Er soll an ein Heim, eine Familie denken! Daran hat er nie gedacht und wird auch niemals daran denken. Wenn er ein Mann wäre, würde er sich dann so an Sie gehängt haben? Hat er nicht zwei kräftige Hände, um sich sein Brot selbst zu verdienen? Ich habe mich immer geschämt, ihn um Geld zu bitten, da ich wuÃte, er hatte es von Ihnen.«
»Aber, meine Liebe, er ist mein Freund.«
»Würden Sie so wie er gehandelt haben?«
Sauvresy wuÃte in der Tat nicht, was er darauf antworten sollte, so sehr war er durch die Logik dieses Mädchens aus dem Volke verwirrt, die ihren Geliebten so direkt einschätzte, wie es im Volk üblich war: offen und ohne Rücksicht auf die Konventionen der besseren Gesellschaft.
»Ich kenne ihn besser«, fuhr Jenny fort, »er hat mich nur einmal getäuscht, und das war an dem Morgen, als er mir verkündete, er wolle sich umbringen. Ich war dumm genug, um ihm das zu glauben, und habe auch noch um ihn geweint. Er und sich umbringen! Dazu ist er ja viel zu feige, weil er Angst hat, sich weh zu tun! Ja, ich liebe ihn, das ist stärker als ich, aber ich schätze ihn nicht. Es ist eben das Schicksal von unsereins, daà wir immer nur Männer lieben können, die uns verachten.«
Man muÃte Jenny in allen umliegenden Zimmern hören, denn sie sprach sehr laut, gestikulierte und schlug manchmal mit der Faust auf den Tisch, daà Flaschen und Gläser klirrten. Sauvresy war das peinlich. Was würden die Leute im Hotel denken, die ihn kannten und hatten kommen sehen. Er begann schon zu bedauern, daà er gekommen war, und bemühte sich nach Kräften, Jenny zu beruhigen.
»Aber Hector überläÃt Sie doch nicht Ihrem Schicksal«, sagte er, »Hector sorgt doch für Sie.«
»Ha, diese Sorgen kenn ich! Brauch ich ihn vielleicht? Arbeit schändet nicht. Ich nehm mein früheres Leben wieder auf. Denken Sie etwa, ich wäre unglücklich gewesen? Sonntags hat man mich für dreiÃig Sou zum Mittagessen beim âºTürkenâ¹ eingeladen. Dort hat man sich vielleicht amüsiert. Da habe ich an einem Tag mehr gelacht als die ganzen Jahre, die ich mit Trémorel zusammen war.«
Sie weinte nicht mehr, sie war nicht mehr wütend, nein, sie lachte, als sie an das Essen beim »Türken« dachte.
Sauvresy staunte. Ihm war die Pariser Natur fremd, die gleichsam weint und lacht, streichelt und schlägt, die abscheulich und wunderbar ist,
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