Das Verbrechen von Orcival
er den Brief.
Er brauchte fast eine Minute, um ihn zu glätten, so sehr zitterten ihm die Hände. Ha! Sein Verdacht war begründet, er irrte sich nicht!
Es war Berthes Handschrift.
Es war eine Mitteilung von drei Zeilen. Er las:
âºGehen Sie morgen nicht nach Petit-Bourg, oder kommen Sie vielmehr vor dem Frühstück zurück. Er hat mir eben gesagt, daà er nach Melun muà und erst spät zurückkommt. Einen ganzen Tag!â¹
Er... das war er selbst. Und die andere Geliebte Hectors war Berthe.
Einen Augenblick lang sah er nichts mehr. Jeder Gedanke war weg. In seinen Schläfen pulste das Blut, in seinen Ohren rauschte es unerträglich, ihm war, als senkte sich die Decke.
Er lieà sich auf einen Sessel fallen. Von Purpurrot war sein Gesicht in Leichenblässe übergegangen; über seine Wangen kullerten brennende Tränen. Jenny näherte sich ihm und versuchte ihn an der Hand zu nehmen. Er stieà sie zurück.
»Lassen Sie mich«, sagte er.
»Vergebung, Monsieur, ich bin so dumm gewesen...«
Und während Jenny unsinnige Entschuldigungen stammelte, zog er, inzwischen wieder etwas zu Verstand gekommen, seine Brieftasche und entnahm ihr, was sie enthielt. Es waren etwa sieben oder acht Hundertfrancscheine, die er auf den Tisch legte.
»Nehmen Sie das alles von seiten Hectors«, sagte er, »es soll Ihnen an nichts fehlen, aber lassen Sie ihn heiraten.« Mechanisch stand er auf und ging unbewegten Gesichts zur Tür.
* * *
A nstelle des Morgennebels war ein feiner, durchdringender, eisiger Regen getreten. Doch Sauvresy nahm ihn nicht wahr. Er stapfte barhäuptig kreuz und quer durch die Landschaft, ohne Richtung und ohne Ziel. Beim Gehen redete er laut vor sich hin, blieb plötzlich stehen, setzte dann genauso plötzlich seinen Weg fort und stieà seltsame Laute aus. Die Bauern der Gegend, auf die er traf und die ihn alle kannten, drehten sich verwundert nach ihm um und fragten sich, ob der SchloÃherr von Valfeuillu gar übergeschnappt sei. Doch das war er leider nicht. Durch eine unerhörte Katastrophe mitten aus seinem Glück gerissen, hatte sein Denken kurze Zeit ausgesetzt. Doch nach und nach bekam er wieder einen klaren Kopf, und mit der Fähigkeit zum Denken hatte er auch die Fähigkeit zum Leiden wiedergewonnen.
Mit den seelischen Schicksalsschlägen ist es wie mit körperlichen Blessuren. Sofort nachdem man sich eine Kopfverletzung zugezogen oder etwas gebrochen hat, verspürt man einen unerträglichen, aber vagen, nicht genau bestimmbaren Schmerz, dem eine mehr oder minder lange Erstarrung folgt.
Erst später spürt man die verletzte Stelle wirklich: der Schmerz wird bohrender, direkter, intensiver, unerträglich, bis er seinen Höhepunkt erreicht hat.
So erging es auch Sauvresy. Je klarer er im Kopf wurde, desto bedrückender waren seine Ãberlegungen.
Was! Das waren ja Berthe und Hector, die ihn hintergingen, die ihn entehrten. Sie â eine Frau, die er rasend liebte; er â sein bester Freund von ehedem. Eine Unglückliche, die er aus dem Elend gerettet hatte, die alles nur ihm verdankte. Ein ruinierter Edelmann, dem er die Pistole von der Schläfe gerissen und wieder gesellschaftsfähig gemacht hatte. Tausend Details gingen ihm jetzt durch den Kopf, die ihm hätten auffallen müssen, wenn er nicht mit Blindheit geschlagen gewesen wäre. Er erinnerte sich mit einemmal gewisser Blicke Berthes, gewisser Schwankungen ihrer Stimme, die einem Geständnis gleichkamen.
Auf einem Baumstumpf im Wald von Mauprévoir sitzend, studierte er mindestens zum zehntenmal während der vier letzten Stunden diesen fatalen Brief.
»Er beweist alles«, murmelte er, »und er beweist nichts.« âºGehen Sie morgen nicht nach Petit-Bourg...â¹
Na ja, in seiner blinden Vertrauensseligkeit hatte er Trémorel ja wieder und wieder empfohlen: »Ich bin morgen abwesend, bleib doch hier und leiste Berthe Gesellschaft« Dieser Satz bewies also noch gar nichts. Aber weshalb hatte sie hinzugefügt:
âº... oder kommen Sie vielleicht vor dem Frühstück zurück.â¹
Das verriet Angst, hier steckte der Fehler. Weggehen, sofort wiederkommen, das hieà sich absichern, einem Verdacht vorbeugen.
Dann, warum »er« und nicht Clément? Die Wahl dieses Wortes war entlarvend. »Er«, das ist das geliebte Wesen, der Angebetete, oder der Herr, den man verabscheut. Da ist
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