Das verdrehte Leben der Amélie, 3: Sommerliebe (German Edition)
liegt, wo auch der Eingang ist und zwei große Fenster. Wohn- und Esszimmer sind in einem Wintergarten.
In den letzten Tagen saß meine Großmutter immer am Esstisch, wenn ich runterkam, und las ihre Zeitung oder legte Karten. Aber heute sitzt sie im Wohnzimmer am Fenster und schaut durch ein Fernglas.
Ich: »Was machst du?«
Meine Großmutter: »Du bist immer noch im Schlafanzug? Es ist schon halb elf!«
Ich: »Na ja … ich hab ja auch Ferien …«
Meine Großmutter nimmt wieder ihr Fernglas und schaut zur Kirche hinüber, wo mehrere Leute auf dem Vorplatz stehen und sich unterhalten.
Ich: »Spionierst du irgendwelche Leute aus?«
Meine Großmutter: »Samstags sind immer Hochzeiten. Ich schaue mir an, wer da heiratet … und was sie anhaben. Das ist echt cool !«
Ich setze mich auf einen Sessel am Fenster und schaue ebenfalls nach draußen. Anfangs nicht besonders interessiert, aber dann immer aufmerksamer, je mehr Leute vor der Kirche eintreffen.
Meine Großmutter: »Der da hinten in dem blauen Anzug, siehst du den?« (Sie hält mir zwei Sekunden lang ihr Fernglas hin und nimmt es dann wieder selbst.) »Das ist Paul-Émile Bégin. Der trägt immer dieselbe Krawatte! Ob er in die Kirche geht oder zum Angeln. Guck mal, da hängen ein paar kleine Fäden runter.« (Sie gibt mir wieder das Fernglas und ich schaue nach.) »Immer wenn ich ihn sehe, versuche ich rauszufinden, ob seine Krawatte nach Fisch riecht, aber er muss damit unter die Dusche gehen, weil sie nicht stinkt! Hahaha!«
Ich lasse mit dem Fernglas vor den Augen den Blick umherschweifen. Große geblümte Kleider, extravagante Hüte, Herren, die mit ihrem Kleingeld klimpern …
Ich: »Die sind ja alle bescheuert angezogen.«
Meine Großmutter: »Bescheuert? Haha. Das ist mein einziges Vergnügen im Leben, mir am Samstag die Hochzeiten anzusehen und mich über die Leute lustig zu machen! Deshalb freue ich mich immer auf den Samstag! Los, gib mir mein Fernglas zurück.«
Ich gebe es ihr und sehe weiter zu, wie die Leute in die Kirche gehen.
Meine Großmutter: »He, Amélie! Siehst du den großen Typen da hinten?«
Ich: »Wo? Den im beigen Anzug?«
Meine Großmutter: »Ja! Na, der ist doch wohl ein hübscher Junge …«
Ich: »Na ja, Junge … der ist doch mindestens 30, oder?«
Meine Großmutter: »Nicht ganz. Er ist 26. Weißt du was? Als er klein war, ist ihm im Erdbeerfeld ein Traktor über den Kopf gefahren. Er hat ein halbes Jahr im Koma gelegen. Und er ist ganz normal! Er unterrichtet sogar Mathe an der Grundschule!«
Ich: »Bäh! Mathe! Dem muss ja wirklich ein Traktor über den Kopf gefahren sein!«
Meine Großmutter: »Hahaha! Schau mal da! Das grüne Kleid mit dem weißen Hut. Das ist seine Mutter. Sie glaubt, ihr Sohn sei ein Wunder und ist die beste Katholikin weit und breit. In der Kirche gibt sie immer große Spenden. Dabei ist sie eine echte Elster!«
Ich: »Was meinst du damit?«
Meine Großmutter: »Oh, sie tratscht und schummelt beim Kartenspielen!«
Ich: »Häh?!?«
Meine Großmutter: »Sie glaubt, ich sei fünfundsechzig. Du sagst ihr doch nicht, wie alt ich wirklich bin, hmm? Sonst wissen es bald alle.«
Ich: »Versprochen.«
Meine Großmutter zündet sich eine Zigarette an und sagt:
»So, jetzt sind alle drin. Jetzt müssen wir eine Stunde warten, bis sie wieder rauskommen.«
11:31
Ich habe mich schnell angezogen, gefrühstückt und mich wieder in den Sessel gesetzt, um die Hochzeitsgesellschaft herauskommen zu sehen. Meine Großmutter und ich haben uns kaputtgelacht, als wir die Braut mit ihren riesigen Satin-Puffärmeln gesehen haben! Sybil hat auch aus dem Fenster geschaut, als interessiere sie sich ebenfalls dafür.
Meine Großmutter: »Letzte Woche hatte die Braut ein wirklich schickes Kleid. Das war die schönste Braut, die ich je gesehen habe!«
Ich: »Warum hat diese so riesige Ärmel genommen?«
Meine Großmutter: »Das darfst du mich nicht fragen! Wahrscheinlich hat sie noch extra eine Diät gemacht, um ins Kleid zu passen! Hahahaha! Und kein Mensch merkt es … Hahahaha! Weil die Ärmel … Hahahahaha! So dick sind! Hahahaha! Sie sieht aus wie ein großes Segelschiff! Hahaha!«
15:00
An: Amélie Laflamme
Von: France Charbonneau
Betreff: Paris
Meine liebe Zuckerpuppe!
Wie geht es dir bei deiner Großmutter?
Ich schreibe dir aus dem Hotel. Wir hatten gestern ein sehr interessantes Treffen mit ein paar eventuellen Kunden. Ich glaube, François hat sie um den Finger gewickelt.
In Paris gibt
Weitere Kostenlose Bücher