Das verdrehte Leben der Amélie, 3: Sommerliebe (German Edition)
Ich mache eine lange Nase. Dann ziehe ich mein Gesicht mit den Händen zurück und mache mit dem Mund ein »o«. Dann ziehe ich den Mund mit den Zeigefingern auseinander und strecke die Zunge raus.
»Amélie?«
Ich zucke zusammen. Ich drehe mich um und sehe Gabriel, seine Eltern und seine Schwester, die mich perplex anschauen.
Gabriel: »Was machst du da?«
Ich: »Äh … nichts … Ich hatte … etwas … zwischen den Zähnen … Aber ich habe es … rausbekommen.«
HILFE!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Seine große Schwester, die etwa so alt ist wie die Braut, streicht ihm über die Haare und sagt:
»Ich wusste ja gar nicht, dass du deine Freundin mitbringst.«
Gabriel: »Lass das! Wir sind … nur Freunde.«
Ich: »Mmhh … nur Freunde.«
Sie lacht, dreht sich zu mir und sagt belustigt:
»Es ist echt blöd, was zwischen den Zähnen zu haben.«
Ich: »Mmhh … echt blöd.«
10:47
Nach einem ziemlich peinlichen Gespräch mit Gabriels Eltern und seiner Schwester (mein Wortschatz hätte die Leute in der Steinzeit garantiert beeindruckt, schien Gabriels Familie aber ziemlich kalt zu lassen), haben wir uns dem Eingang der Kirche genähert, und als wir reingegangen sind, habe ich meiner Großmutter kurz zugewinkt.
11:02
Meine Großmutter hatte recht, der Hochzeitsmarsch geht tatsächlich so: Tatamtataaaaaaaaaam, tatatatatatatalamtatataaaaam.
Das Kleid von Gabriels Cousine ist wunderschön (total hässlich, aber das sage ich nur zu meiner Großmutter, hihi).
11:07
Die Messe dauert schon dreißig Millionen Jahre (laut meiner Uhr erst ein paar Minuten. Ich schüttele sie, um zu testen, ob sie noch funktioniert). Die Stimme des Priesters hallt in der Kirche wider. Ich kann mich einfach nicht auf seine Worte konzentrieren, weil er sich so, sagen wir mal, umständlich ausdrückt.
11:08
Ich glaube, das letzte Mal war ich bei der Beerdigung meines Vaters in der Kirche. Das war natürlich nicht diese Kirche, aber sie sah irgendwie ähnlich aus … Ich saß zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter Laflamme. Meine Großeltern Charbonneau saßen hinter uns. Der Chor sang irgendwas. Ich weiß nicht mehr, was. Ich habe nicht geweint. Meine Mutter dagegen schon. Sie hatte ein ganz rotes, verheultes Gesicht. Besonders schlimm war für mich, dass mein im Sarg aufgebahrter Vater rosige Wangen hatte. Mein Vater hatte nie rosige Wangen. Ich hatte das Gefühl, es sei gar nicht er. Und ich habe mich gefragt, wo er wohl stecken könnte, wenn er nicht da vor mir im Sarg lag. Ich hätte am liebsten gesagt, dass sich alle getäuscht hätten. Und dass alle, die nach vorne kamen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, sich von dem Falschen verabschiedeten.
11:09
Ich war kurz davor, emotional zu werden, als mir eine andere Erinnerung in den Sinn kam. Mir fiel ein, dass ich mit etwa sechs Jahren an Weihnachten in dieser Kirche in der Mitternachtsmesse war. Mit meiner Mutter, meinem Vater und meiner Großmutter. Ich wende den Kopf zur Seite und erinnere mich, dass dort der Chor war. Auf der anderen Seite war eine große Krippe. Irgendwann sagte der Priester, wir sollten uns alle erheben und in den Chor einstimmen. Ich konnte mich nicht zurückhalten und habe gefurzt . Unauffällig, natürlich. Aber meine Großmutter hat mir ins Ohr geflüstert, ob ich es war, die da gerade gefurzt habe. Ich habe nichts erwidert (das war ja auch echt peinlich, und dabei hatte ich doch versucht, ganz leise zu sein) und sie hat gesagt, wenn man beim Furzen in der Kirche erwischt werde, komme man ins Gefängnis. UND ICH HABE IHR GEGLAUBT!!!!
Solche Späße hat sich meine Großmutter mit mir erlaubt und deshalb mochte ich sie nicht besonders, aber heute ruft diese Erinnerung in mir eine Welle der Sympathie für sie hervor. Komisch, wie sich eine Erinnerung, die man immer als »schlecht« verbucht hat, so verändern kann. O.k., ich benutze das Pronomen »man«, aber eigentlich meine ich mich, deshalb sollte ich sagen »ich«. Ich weiß nämlich nicht, ob das anderen auch schon mal passiert ist, dass sie sich eine schlechte Erinnerung ins Gedächtnis gerufen und plötzlich gemerkt haben, dass es eine gute Erinnerung war. Hmm …
To do: Einen Neurologen aufsuchen, um die Neigung in den Griff zu kriegen, in den Ferien an Grammatik (oder andere Unterrichtsthemen) zu denken.
11:10
Ich lache bei dieser Erinnerung ganz leise in mich hinein.
Trotzdem scheinen alle mein Lachen zu hören, denn jede Menge Köpfe drehen sich nach mir um (einschließlich dem des
Weitere Kostenlose Bücher