Das Verhaengnis Thriller
nachts. Dann lag Jeff in seinem Bett, lauschte Wills Heulen und fühlte sich seltsam getröstet, weil sein Bruder sich trotz all der Aufmerksamkeit, mit der er überschüttet wurde, offenbar ebenso elend fühlte wie er selbst.
Mit einem entscheidenden Unterschied: Wenn Will weinte, sprangen alle sofort auf, während man ihm, wenn er heulte, erklärte, er solle aufhören, sich anzustellen wie ein Baby. Er solle still sein und in seinem Bett liegen bleiben. Er durfte nicht einmal aufstehen, wenn er in der Nacht auf die Toilette musste, weil er sonst das Baby stören könnte. Und so lag er im Dunkeln mit voller Blase und mit Bauchkrämpfen, umgeben von den handgenähten Quilts seiner Stiefmutter, die ihn aus jeder Ecke des Zimmers belauerten wie böse Geister. Und dann hatte er es eines Nachts nicht mehr länger ausgehalten und ins Bett gemacht. Und seine Stiefmutter war am nächsten Morgen mit dem zappelnden Baby auf dem Arm ins Zimmer gekommen und hatte die noch feuchten Laken entdeckt und ihn ausgeschimpft, und Will hatte plötzlich aufgehört zu schreien und stattdessen gegluckst, als verstünde er, was geschah, und freute sich darüber.
In diesem Augenblick beschloss Jeff, ihn zu töten.
Er wartete, bis alle ins Bett gegangen waren, und schlich sich dann ins Kinderzimmer. Wills handbemaltes Holzbettchen zeichnete sich vor der blauen Wand ab, darüber kreisten träge die zierlichen, bunten Stoffflugzeuge eines Mobiles. Spielsachen in jeder Form und Größe reihten sich auf den Regalen an der gegenüberliegenden Wand. Stofftiere – Riesenpandas und stolze Ponys, Plüschhunde und Fellfische – tummelten sich auf dem weichen blauen Teppich. Es war ein richtiges Zimmer, wie Jeff schon damals begriffen hatte. Nicht nur ein Provisorium, das ursprünglich für einen anderen Zweck vorgesehen war. Wie sein Zimmer mit der schmalen Pritsche an der nackten weißen Wand. Das ehemalige Nähzimmer seiner Stiefmutter. Natürlich sollte er nur vorübergehend bleiben. Bis seine Mutter sich wieder eingekriegt hatte und ihn zurückholte, was gar nicht früh genug geschehen konnte. Zumindest hatte er gehört, wie seine Stiefmutter das einer Freundin anvertraut hatte, als beide glücklich über Wills Bettchen gegurrt hatten.
Vor diesem Bettchen stand Jeff jetzt und betrachtete seinen schlafenden Bruder, bevor er das größte Stofftier nahm – ein grinsendes, moosgrünes Krokodil – und Will die fusselige, zitronengelbe Unterseite ins Gesicht drückte. Will strampelte ein paar Sekunden lang panisch mit seinen kleinen Füßchen. Dann lag sein kleiner geschmeidiger Körper plötzlich ganz still, worauf Jeff aus dem Zimmer floh. Die ganze Nacht kauerte er unter seiner Pritsche aus Angst vor den Teppichgeistern, die ihn im Schlaf verfolgen und ersticken würden.
Als Jeff am nächsten Morgen in die Küche kam, saß Will stolz auf seinem Kinderstuhl, schlug mit dem Löffel auf seine Schüssel und schrie nach seinem Brei. Jeff hatte ihn ehrfürchtig schweigend angesehen und sich gefragt, ob er die ganze Geschichte nur geträumt hatte.
Das fragte er sich immer noch.
Selbst zwei Jahrzehnte später halb wach in dem Doppelbett, das er mit Kristin teilte. Nicht dass er nicht in der Lage gewesen wäre, einen Menschen zu töten. Die Antwort darauf kannte er mittlerweile. In Afghanistan hatte er mindestens ein halbes Dutzend Männer getötet, darunter einen aus kürzester Entfernung. Aber das war etwas anderes. Das war Krieg. Da galten andere Regeln. Man musste schnell handeln. Man konnte sich keine Selbstzweifel leisten. Jeder war ein potenzieller Selbstmordattentäter. Und Jeff war überzeugt gewesen, dass der Mann nach einer Waffe gegriffen und nicht kapitulierend die Arme gehoben hatte, wie seine in Tränen aufgelöste Frau später behauptete.
Bis heute spürte Jeff den Sand in seinen Augen und das schwere Gewehr in seiner Hand. Er hörte das Klicken des Abzugs, gefolgt von den hysterischen Schreien der Frau, und sah den ungläubigen Blick in den dunklen Augen des Mannes, als eine Explosion roter Spritzer sich über die Vorderseite seines weißen Umhangs breitete wie ein Muster auf einem der Wandteppiche seiner Stiefmutter.
Ja, er war in der Lage zu töten.
Aber vorsätzlicher, kaltblütiger Mord?
Hatte er wirklich versucht, Will zu ersticken?
Und später, als Will drei Jahre alt war und Jeff ihn auf der Schaukel im Garten so heftig angestoßen hatte, dass seine Stiefmutter aus dem Haus gerannt kam, ihren Sohn von der Schaukel
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