Das verhängnisvolle Experiment
kleinen Stich ins Rötliche, wie Eis, auf das die Morgensonne scheint. Es war eine Komposition, die den Atem benahm. »Spring, Toria!«
Obwohl sie den Druck seiner Hand im Rücken fühlte, zögerte sie noch. Sie hatte Angst. Dies war einer der Augenblicke, in denen sie sich wünschte, sie wäre für immer bei den Flippern geblieben. Mit dem teils überlegenen, teils mitleidigen, immer aber verständnislosen Lächeln der anderen vermochte man zu leben, mit einer Laserwunde in den Eingeweiden oder sich von den Knochen lösendem Fleisch jedoch nicht.
Weshalb nur war sie zurückgekehrt an die Seite derer, die die Welt nach ihren Vorstellungen zu ändern suchten, ohne zu fragen, ob die Welt das auch wollte? In den Kreis derer, die nach Erkenntnis strebten, nach Wissen und Gewißheit? Weshalb? Da doch nicht einer der Gründe, die sie zu den Kontemplanten getrieben hatte, beseitigt worden war.
Sie erinnerte sich noch genau des letzten Gespräches mit ihrem Vater, dem, zumindest war ihr das damals so erschienen, das theoretische Wissen um den Ablauf gesellschaftlicher Prozesse mehr bedeutet hatte als die Kenntnis der Probleme derer, aus denen die Gesellschaft bestand.
Es ist eine jener Nächte, in denen sich der Himmel geöffnet hat, in denen die bleichen Sterne zu fernen Welten werden, geheimnisvoll und unerreichbar fern, eine jener Nächte, in denen man fühlt, wie ungeheuer groß das All ist, wie unergründlich und unbegreifbar, wie kompliziert und unwandelbar. Und wie winzig in ihm das Wesen Mensch.
Sie liegt nach einem Tag voller Fragen nach dem Sinn ihres Seins auf der Terrasse, auf dem nackten, kalten Boden, hat die Hände im Nacken verschränkt und starrt auf die vielen winzigen Lichter da oben, von denen sie die meisten sogar im Schlaf mit der Katalogbezeichnung benennen könnte, von denen sie Temperatur und Umlaufzeit, relative und absolute Helligkeit, Rotationsgeschwindigkeit und vermutliches Alter weiß und aus denen jetzt doch nur Kälte auf sie herniederströmt. Die Sterne sind wie Menschen, die mit abgewandtem Gesicht an ihr vorübergehen, die sie schätzen kann nach Alter und Geschlecht und Figur und von denen sie doch nichts weiß, nichts von ihren Freuden und Leiden und nichts von den Zwängen, denen sie unterliegen.
Sie hört ihren Vater rufen, weiß, daß das Fernsehprogramm den Sendeschluß anzeigt, daß er seine täglichen Notizen abgeschlossen hat, daß er erschöpft und vielleicht auch ein wenig mit sich zufrieden ist. Schließlich hat er sein Tagewerk hinter sich gebracht und kann sich nun im Gefühl, etwas geleistet zu haben, zu Bett begeben. Es erscheint ihm selbstverständlich, daß auch sie jetzt zur Ruhe gehen wird, man muß ausgeruht sein für den nächsten Tag, der wieder voller Arbeit und Verantwortung sein wird.
Arbeit, wozu? Verantwortung, wofür?
Sie hört ihn über die Steine der Terrasse tappen. Wie ein großer Schatten steht er gleich darauf vor ihr.
»Hier also liegst du! Was soll das?«
Sie antwortet nicht. Weil sie keine Antwort weiß. Sie liegt und blickt in die Sterne.
»Was tust du hier? Ich habe nach dir gerufen.«
Mehr als seinen Schatten sieht sie noch immer nicht. »Ich weiß«, sagt sie.
Er fragt nicht, weshalb sie ihm nicht geantwortet hat, er muß wohl spüren, daß sie mit ihren Gedanken woanders ist als hier auf der Terrasse neben dem schmalen Streifen Erde mit den kümmerlichen Kletterrosen. Er setzt sich zu ihr, umständlich in den Schneidersitz fallend und unbequem aufgestützt auf eine Hand. Sie weiß, er wird so nicht viel länger als zwei Minuten hocken können.
»Und weshalb bist du nicht gekommen? Was gibt es hier, das wichtiger wäre als ausreichender Schlaf?«
»Ich beobachte die Sterne.«
»Weißt du denn noch nicht genug von ihnen? Was kannst du Neues erfahren ohne deine Instrumente?«
»Nichts sehe ich.«
»Na also! Dann geh endlich zu Bett!«
Sie schweigt. Und ihre Gedanken kreisen. Er quält sich hoch, und sie weiß, daß er seine Ungeduld nur mit Mühe unterdrückt.
»Dort ist nichts, und hier ist nichts«, sagt sie endlich.
Er horcht auf. Der Ton muß ihm verraten haben, daß sie sich mit Ungewöhnlichem beschäftigt. »Was soll das, Toria?«
»Du hast mir viel von deiner Arbeit erzählt, Papa. Und immer haben mich dein Wissen und deine Zielstrebigkeit beeindruckt. Noch mehr aber habe ich deinen Glauben an die Veränderungen bewundert, deine Gewißheit, daß sich die Menschheit mit Riesenschritten ihrem Glück nähert. Zehn,
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