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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Betäubung des Schmerzes erwachte und nach Luft schnappte. Kein Gedanke, keine Furcht hatte sie in dem Moment geplagt. Sie war weder eine Galuene noch die Nichte eines Skergs. Sie war nicht Brans Frau. Sie war einfach nur. Der Schmerz war stechend wie ein Messerstich. Zweimal presste ihr Körper, bevor sie alle Kraft verließ. Und dann hörte sie das Weinen des Kindes.
    Der Junge strampelte mit den Beinen, rollte sich auf die Seite und schmatzte. Sie fuhr vorsichtig mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Er hatte Brans Haare, und seine Augen waren blau wie bei ihnen beiden. Das breite Kinn sah auch nach Brans Kinn aus, aber um den Mund herum erkannte sie ihre eigenen Züge wieder. Sie strich mit der Fingerkuppe an seiner Oberlippe entlang. Ihre Lippen waren schmal, sie mochte den Schwung in den Mundwinkeln und berührte den feuchten Mund des Säuglings. Doch, er hatte ihren Mund.
    Das Kind gab einen hicksenden Laut von sich und griff nach ihrem Finger. Sie wusste inzwischen, was das bedeutete, und legte ihn an die Brust. Da zog er die Beine an und suchte mit seinen winzigen Händen Halt an ihrer Haut.
    Tir legte die Decke um den Rücken des Kleinen. Bald würde Bran kommen und ihr etwas zu essen bringen. Sie hatte Virga auf der anderen Seite des Vorhangs gehört, als er das Bronzehorn aus Brans Seesack genommen und mit Kriava, Kais und Naris Tochter, geplaudert hatte. Die beiden waren etwa im gleichen Alter, und hinter vorgehaltener Hand sprachen die Frauen von Virga bereits als dem passenden Mann für sie. Und obgleich Virga mit seinen fünfzehn Wintern schon an einem Krieg gegen die Vandarer teilgenommen hatte, hatte er seine Menschlichkeit nicht verloren. Er war nicht wie Zwei Messer oder Storm. Er war kein Krieger. Irgendwann, dachte sie, war Bran vielleicht auch einmal wie er gewesen. Ein junger Bursche, der in einer Welt voller Unfrieden um sein Überleben kämpfte. Aber seitdem war viel geschehen in Brans Leben. Seit er seine Heimat hatte verlassen müssen, war ihm der Unfrieden gefolgt und hatte ihn geprägt. Sein eigenes Volk sah ihn nicht so, sie war es, die nachts neben ihm lag und ihn tröstete, wenn die bösen Träume kamen. Und sie verfluchte Visikal, der ihn zu dem Kriegszug gegen die Vandarer gezwungen hatte.
    Ihr Blick wanderte zum Vorhang. Sie hatte Hornsignale gehört. Achtmal war Visikals Bronzehorn ertönt, jeder Ton ein letztes Gebet, dass Nangor und seine Besatzung die Stürme überlebt hatten. Junge Frauen, die Kinder von Männern aus Tirga erwarteten. Sie hoffte inständig, dass sie noch am Leben waren. Aber sie hatte selbst erlebt, wie die Wellen am Schiffsrumpf gezerrt hatten, und außerhalb des Bugraums unterhielten Männer wie Frauen sich flüsternd und voller Sorge über das Schicksal von Taran und Nangor, von Kuenn, Nemni und all den anderen, die sie kennen gelernt hatte, nachdem sie Brans Frau geworden war. Bran war der Einzige, der die Hoffnung noch nicht aufgeben wollte. So war er eben. Er weigerte sich, sich dem Willen der Götter zu beugen.
    Sie schloss die Augen und atmete aus. Der Wille der Götter… Nicht einmal sie, die gelernt hatte, Cernunnos’ Stimme zu vernehmen, wusste, was Der, der Hörner trägt, mit ihnen vorhatte. Er hatte sie gesehen, als sie für Brans Leben gebetet hatte, sie hatte seine Gegenwart gespürt dort oben am Steinaltar. Sie hatte ihn gebeten, ein Opfer zu fordern, aber Cernunnos hatte geschwiegen. Und bis jetzt hatte noch keiner von Brans Nächsten mit seinem Leben für Brans Rettung büßen müssen. Denn so lautete das Gesetz: Der, der Hörner trägt, forderte ein Leben für ein anderes. Sie hatte Bran davon erzählt, aber diese Dinge schienen ihm fremd zu sein. »Cernunnos ist ein guter Gott«, hatte er gesagt. »Er hat sich mir in dem Schneesturm offenbart. Er hat mir gezeigt, wo Blutskalles Frau war. Er will mir nichts Böses.« Und vielleicht hatte Bran ja sogar Recht, denn wenn es Cernunnos nach Blut dürstete, hatte ihm der Krieg mehr als genug gegeben. Der Sänger war in Aard gefallen, und die Katzenbrüder fielen in der Seeschlacht bei Oart. Und Keer, der mit Bran zusammen durch das vereiste Hochland gewandert war, opferte Dem, der Hörner trägt, in einem letzten Kampf gegen die Verfolger seine Seele. All das hatte Bran ihr im Laufe der frostigen Winterabende erzählt, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war.
    Sie blickte in das kleine Gesicht. Der Junge war eingeschlafen. Aber selbst im Schlaf trank er noch ihre Milch. Es war, als

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