Das Verheissene Land
»Geh und such nach ihr, Bran. Sie wollte zu Cernunnos beten, damit ihr zurückkommt, und danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Diese Worte hatte Tir ihm zugeraunt. Bran hatte kein gutes Gefühl, als er den tanzenden Menschen den Rücken zukehrte und zur Luke ging. Er kletterte über die Leiter nach unten und tastete sich an den Balken entlang. Die Talglichter waren erloschen, und seine Augen waren nicht stark genug, um die Finsternis zu durchdringen.
»Kianna?« Er blieb stehen und lauschte. Einzig die Wellen am Schiffsrumpf und der um den Mast pfeifende Wind waren zu hören. Er tastete sich an den Ruderbänken entlang. Seit Kin-Mar hatte er der Galuene kaum einen Gedanken gewidmet, und das bereute er jetzt. Die dicke Frau hatte sich in letzter Zeit etwas abgesondert. Sie war unter Deck geblieben, und Tir hatte sich um das Kind gekümmert.
»Kianna! Tir fragt nach dir!«
Bran stieß mit dem Schienbein gegen eine Ruderbank und krümmte sich zusammen. Er fluchte und schlug mit der Faust gegen den Balken. Dann richtete er sich wieder auf, tastete sich weiter vor und spürte den Vorhang an den Fingerspitzen. Er schob ihn zur Seite und stieg über die Querschwelle. Es roch süß und warm dort drinnen. Noch immer hing Tirs Duft in den Decken und Kleidern, die an den Haken und über den gespannten Sehnen auslüfteten. Bran sog diesen Duft ein, und da nahm er auch noch etwas anderes wahr. Er hörte den Atem eines Menschen.
»Kianna?« Er beugte sich hinunter. Sie hatte sich vor der Bordwand zusammengekauert, und er berührte sie vorsichtig. Sie zitterte.
Bran taumelte aus dem Bugraum. Er stieß gegen einen Balken, tastete sich Armlänge um Armlänge weiter, bis er schließlich unter der Luke stand und nach oben an Deck klettern konnte. Dort rannte er an die Reling.
»Tir!« Sein Ruf schnitt sich durch das Flötenspiel und den Gesang. »Kianna ist krank! Ihr müsst kommen. Sie liegt im Bugraum.«
Das Flötenspiel erstarb, und das Gelächter verstummte. Sie sahen ihn an, als wollten sie nicht glauben, dass jemand an einem Abend wie diesem krank sein konnte. Dann stand Tir auf. Sie reichte Linvi das Kind und rannte los. Die Stimmen überschlugen sich und die Tirganer ließen Becher und Schwerter fallen und stürzten hinter ihr her. Wenn auch keiner von ihnen Kianna seit der Abreise aus Tirga allzu viele Gedanken gewidmet hatte, so war sie doch eine Galuene. Und die Galuenen hatten die Gabe, Cernunnos’ Worte zu vernehmen.
Bran beugte sich über die Reling, ergriff Tirs Hand und zog sie an Deck. Tir ging rasch zur Luke, raffte den Rock im Schoß zusammen und kletterte nach unten. »Halte die anderen hier an Deck auf«, sagte sie und verschwand im Dunkel.
Er stellte sich über die Luke und als die Tirganer über die Reling kletterten, streckte er ihnen abwehrend die Hände entgegen und schüttelte den Kopf. Die halb nackten Krieger verstanden ihn. Sie legten sich ihre Umhänge um und warteten.
Tir war lange bei Kianna. Bran setzte sich an den Mast, und während das Feuer langsam verglühte, sah er, wie die Wolken über das Meer davonzogen und die Himmelssteine leuchten ließen. Die Apfelbäume raschelten mit welken Blättern, die der Wind aufs Meer hinaustrieb.
Bald darauf kletterten die Männer und Frauen an Bord der Schiffe, auf die sie gehörten. Bran hörte Nangor auf dem anderen Langschiff etwas über Strömungen und Winde murmeln. Der Seeräuber stand am Achtersteven und sprach mit Nosser.
Dielan schlenderte zu Bran hinüber. Er hielt Konvai an der Hand, und als er sich vor Bran hinhockte, versteckte sich sein Sohn hinter ihm. »Was ist los?«, fragte Dielan.
Bran zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Tir ist unten bei Kianna.«
Dielan zog seinen Sohn an sich und ließ ihn zwischen seinen Beinen sitzen. Auch der Rest des Felsenvolkes hatte sich an Deck niedergelassen. Sie suchten hinter der Reling Schutz und wickelten ihre Kinder in Decken und Umhänge.
»Es ist eine kalte Nacht«, sagte Dielan.
Bran lehnte seinen Kopf nach hinten an den Mast. Die dicken Taue kratzten an seinem Nacken. Der Wind war kühl und roch nach Frost. Er dachte an den Abend in Arborg, an dem die Old-Myrer und Arborger aus den gewaltigen Fässern getrunken hatten, die hinter den Mauern standen, und an dem die Sackpfeifen den Mut und Irrsinn des Krieges besungen hatten. An diesem Abend war der Winter in das Land im Süden gekommen. Er erinnerte sich nicht mehr, wie viele Monde das zurücklag, doch wenn er so dasaß und
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