Das Verheissene Land
Häuptlings mit dem Dolch spielen, wenn er will!« Turvi hinkte zu Tir und klopfte ihr auf die Schulter. »Er muss sich früh daran gewöhnen, mit Waffen umzugehen.«
Tir schien sich nicht um die Worte des Einbeinigen zu kümmern, denn sie beugte sich über ihren Sohn und löste eine seiner Hände von der Waffe.
»Lass ihn sie halten«, sagte Bran. »Er wird sie bald loslassen.« Er legte seinen Arm um sie. Tir zögerte, ließ das Kind dann aber gewähren. Ulv hielt den Dolch vor sich und starrte verwundert auf die goldene, geaderte Klinge.
Die Männer gestikulierten und sprachen murmelnd miteinander. Loke trat einen Schritt zurück, strich sich über die Bartflechten und betrachtete das Kind.
»Er hat das Blut eines Kriegers in sich.« Zwei Messer ballte zwischen Hagdar und Nangor die Faust. »Visikals Stärke liegt in ihm.«
Loke warf ihm einen harschen Blick zu und spuckte in den Sand.
Da vermochte Ulv den Dolch nicht länger zu halten. Er ließ die Arme auf den Bauch sinken, hielt den Dolch aber noch immer mit beiden Händen fest. Tir löste seine Finger von der Klinge. Das schien Ulv nicht zu passen, denn mit einem Mal begann er zu schreien und mit den Beinen zu strampeln. Er packte den Dolch an Klinge und Schaft und begann ihn über sich zu schwenken. Tir fasste ihn rasch an den Armen. Bran sah auf sein Kind hinab und konnte kaum glauben, was geschah. Ulv schloss die Augen, hielt jäh den Atem an und der Dolch bog sich in seinen Händen und brach entzwei.
Tir riss Ulv aus Brans Armen. Die linke Hand des Kindes blutete. Tir nahm ihren Schal ab und presste ihn auf den Schnitt. Sie weinte, und Bran wusste nicht, was er tun sollte.
Das Felsenvolk stand still um sie herum, als könnten die Menschen nicht fassen, was sie gesehen hatten. Die Männer hatten die Münder aufgerissen und Dielan starrte den Kleinen ungläubig an.
Nur Turvi schien verstanden zu haben, was geschehen war. »Hol saubere Leintücher!« Der Einbeinige rüttelte Dielan an der Schulter, ehe er zwischen Männern und Frauen hindurchhinkte. »Nangor! Ich weiß, dass du irgendwo einen guten Tropfen versteckt hast. Hol ihn. Wir müssen die Wunde reinigen, ehe die Wundgeister auf die Fährte des Blutes kommen!«
Nangor rannte zum Langschiff. Turvi stürzte zu Boden, hörte aber nicht auf zu rufen und mit den Armen zu rudern. »Und hol Kianna, die Galuene!«
»Seit gestern hat sie niemand mehr gesehen«, antwortete ihm jemand von irgendwoher.
»Dann findet sie!« Turvi schlug mit seinen Krücken zwischen die Männer. »Der Sohn des Häuptlings hat sich verletzt!«
Bran sah sie an. Sie rannten durcheinander; Frauen mit Leinenlappen und Wasserschläuchen und Männer, die planlos umherirrten. Loke hob die zwei Teile des Dolches aus dem Sand auf und ging rasch mit seinen Lehrlingen davon. Bran fühlte keine Wut, denn er konnte die Waldgeister nicht dafür verantwortlich machen, dass sich das Kind verletzt hatte. Er wandte sich an Tir. Tränen rannen über ihre Wangen. Gwen beugte sich zu ihr hinunter und schob einen nassen Lappen in Ulvs Hand. Der Junge schrie nicht, er lag einfach da, während sich die Frauen um ihn scharten. Er zwinkerte in den Himmel und plapperte wie immer vor sich hin.
Bran sah auf und bemerkte, dass sich die Wolken verzogen hatten. Der Mond stand hoch unter Kraggs Schwingen. Er sah aus wie ein gespaltener Schild.
Nangor opferte kostbare Tropfen aus seinem letzten Weinschlauch und benetzte die Wunde, und Tir verband die kleine Hand mit Linvis sauberstem Leinen. Es dauerte nicht lange, bis das Felsenvolk wieder am Feuer Platz nahm und die Tirganer zum Schwerttanz aufspielten. Und das Felsenvolk tanzte, denn sie wussten, dass dies der letzte Abend am Apfelstrand war. Bald sollten sie sich wieder in das Reich Beravs begeben und nach Norden segeln, in das Land aus Brans Traum. Und die meisten vertrauten darauf, dass es richtig war, denn Bran hatte sie durch die Stürme geführt, ohne einen einzigen Menschen zu verlieren.
Bran selbst tanzte nicht und er beteiligte sich auch nicht an den Gesprächen seiner Freunde am Feuer. Er war an Deck der Tigam geklettert, von wo aus er ins Dunkel starrte. Tir hatte ihn gebeten, nach Kianna zu suchen. »Sie ist unter Deck gegangen, kurz bevor ihr gekommen seid«, hatte Tir ihm zugeflüstert, als Linvi Ulvs Wunde mit einem Lappen auswusch, den sie zuvor in Nangors Gebräu getunkt hatte. Das Kind schrie, doch Tir drückte es an sich, während sie in Brans zerschundenes Ohr flüsterte.
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