Das Verheissene Land
und eine bodenlose, dampfende Kluft öffnete sich unmittelbar vor ihm. Er rannte fort, doch die Kluft weitete sich aus und riss den Boden entzwei. Er schwor, dass sie ihm folgte und dass er es nur seiner Schnelligkeit zu verdanken hatte, dass er mit dem Leben davonkam!«
Turvi hielt sich den brennenden Stock vors Gesicht. Die Falten auf seiner Stirn wurden tief, und alle konnten sehen, dass ihn seine Worte noch nachdenklicher hatten werden lassen.
»Aber sollten wir dann nicht augenblicklich von hier fortgehen?« Hagdar sah die anderen an. »Ich meine, wenn es so ist, dass sich die Erde unter unseren Füßen öffnen kann? Ich will nicht in eine brennende Kluft stürzen.«
Turvi schüttelte den Kopf und spuckte in die Flammen. »Ihr habt nicht die Hälfte des Mutes, den ich als junger Mann hatte. Wir ließen uns weder von den Krettern noch von den Vokkern auf der Nase herumtanzen, das kann ich euch sagen!« Er deutete auf Hagdar. »Und ich sage dir, kleiner Hagdar, dass dir dein Vater noch einiges beibringen muss. Er kam nach einem der letzten Jagdtage zu mir und sagte: ›Hagdar frisst wie ein ausgewachsener Hengst, doch wenn wir in die Berge gehen, tritt er mit seinen großen Füßen auf alle Zweige und verscheucht mir das Wild! Ich muss ihm beibringen, wie man schleicht, Turvi. Sonst wird er niemals ein guter Jäger!‹«
Hagdar stand auf. »Ich bin ein besserer Jäger als die meisten meines Volkes!«
Linvi zog ihn am Arm und nickte in Richtung des Einbeinigen. Turvi hatte sich an Dielan gewandt, und jetzt bekam Dielan zu hören, wie bekümmert Turvi darüber war, dass Febal zu viel Gewalt gegenüber seinen Söhnen anwendete. Da setzte sich Hagdar hin, denn er erkannte, dass der Alte wieder in der Welt seiner Erinnerungen versunken war.
»Ja, das sollt ihr alle wissen.« Turvi wandte sich an die anderen. »Noj und ich beobachten eure Kinder. Er braucht einen guten Mann für seine Tochter, wenn die Zeit reif ist. Und dieser Mann wird einiges aushalten müssen, denn Kirgit ist wilder als ein Luchs und starrköpfiger als der neue Hengst des jungen Nosser.«
Da kroch Loke zum Feuer. Er stand auf und schüttelte sich den Sand aus dem Bart. Turvi neigte den Kopf zur Seite und grüßte den Waldgeist mit offener Hand. Loke hob seinen Bart an, damit er nicht vom Feuer angesengt wurde, und ging um die Flammen herum.
»Die Erinnerungen leben stark in dir.« Der Waldgeist tätschelte Turvis Hand. »Sie sind es, die dich am Leben halten und dir die Kraft geben, deine Schmerzen zu ertragen.«
Turvi blickte zu Boden. Die Menschen am Feuer erkannten die Tränen in seinen Augen, doch Turvi weinte oft.
»Du hast drei Zeiten durchlebt«, sagte Loke. »Als junger Mann warst du der beste Jäger in Nojs Gefolge und ein tapferer Krieger. Dann nahm der Vokker dir das Bein. Karain lehrte dich die Geheimnisse der Schriftzeichen und so wurdest du der weise Mann deines Volkes. Du hast ihre Erinnerungen gesammelt. Wie viele Winterabende hast du am Feuer gehockt und die Geschichte deines Volkes aufgeschrieben, ihre Ahnentafeln und Erinnerungen? Viele, Turvi. Und in letzter Zeit…« Loke streckte seine Hand zum Meer aus. »Das Meer ist deine dritte und letzte Zeit. Deine Hüfte quält dich, denn sie hat einen trotzigen, mutigen Körper ein halbes Leben lang auf einem Bein gehalten. Doch du hältst dein Volk zusammen. In dir finden die Jungen Weisheit und deshalb vergeben sie dir diese Stunden, in denen du in eine Zeit zurückfliehst, in der du wie sie warst und mit Noj über die grasbewachsenen Hügel des Lanzengebirges gewandert bist.«
»Du hast Recht.« Turvi fasste sich an die Stirn, und jetzt war er wieder voller Ernst. Das Feuer warf Schatten auf seine Stirn und ließ seine Augen dunkel werden. »Ich vermisse die Jugend. Doch Eyna versteht mich. Sie…« Er richtete sich auf und sah sich um. Eyna saß mit Narien und Kriava auf der Decke gleich vor Bran und Tir.
»Ich bitte dich, jetzt bei uns zu sein, und wenn wir weiterziehen, sollst du aufschreiben, was heute Nacht geschehen ist.« Loke winkte seine Lehrlinge herbei. »Denn wir haben ein Geschenk für das Kind mit den zwei Namen mitgebracht, für den Sohn von Bran und Tir.«
Hagdar und Dielan erhoben sich. Dielan nahm Konvai bei der Hand. Kaer griff Turvi unter die Arme und half ihm auf die Krücken, und noch ehe sich der Alte sammeln und etwas sagen konnte, stapften die Waldgeister zu Bran und Tir hinüber. Bran schrak auf. Auch Tir richtete sich auf. Das Kind begann zu
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