Das Verheissene Land
geklettert war. Damals war es Winter gewesen. Karain hatte sie im Schutz der Dunkelheit aus dem Hafen von Krugant gerudert. Dann hatte er Segel gesetzt und sie nach Süden gebracht. Der Sturm hatte geheult und die Wellen drohten sie alle umzubringen. Karain war ein mutiger Junge, dachte Loke, und nahm noch einen Schluck aus dem Krug. Er hätte ihn gerne wieder gesehen, doch die Vögel hatten ihm vom Fall der Felsenburg gesungen. Und die Raben hatten von den hohen Ästen der Turmbäume herabgeschrien. Sie hatten ihm erzählt, dass Kirgit, Karains Frau, tot war.
»Da ist er!« Bile stieß Vile mit dem Ellbogen an. Die zwei Brüder erhoben sich. Loke räusperte sich und drückte den Rindenkorken fest in den Krug, ehe er sich aufrappelte und seinen Bart zurechtzupfte. Er wusste, auf was sie ihre Augen gerichtet hatten.
Eine der Frauen auf Brans Langschiff trat in den Lichtschein der Mastfackel. Sie hielt Tirs kleinen Jungen im Arm. Loke erkannte den Mann an ihrer Seite wieder. Es war Dielan, Brans Bruder.
Bile drehte sich um und sah ihn an. »Ja, denn das ist Er doch, nicht wahr, Loke?«
Loke nickte. »Er ist der Wiedergeborene.«
Vile und Bile klopften einander auf den Rücken. Loke verstaute den Krug in seinem Sack und lächelte vor sich hin. Am liebsten hätte er nach Art der Waldgeister gefeiert, mit wilden Sprüngen über das Feuer, mit gebratenen Pilzen und starkem Trunk, doch dafür war jetzt nicht die Zeit. Er wusste nicht, wer Kianna war, aber so wie Bran nach Tir gerufen hatte, musste sie eine Freundin sein. Und die Krankheit von Freunden war das Schlimmste, was es gab.
»Zwei Jahre«, sagte Bul. »Zwei Jahre haben wir dafür gebraucht, hierher zu wandern und dem Jungen den goldenen Dolch zu überreichen, und als es dann endlich so weit ist, stellt sich einer des Volkes der Großen vor mich! Ich habe bloß das Knacken gehört, als die Klinge brach!«
Loke ging zu ihm und drückte ihn an sich. Bul war der Tüchtigste von Lokes Lehrlingen und sein Lieblingsschüler. Die Zahl der Trolle, die der junge Waldgeist gefällt hatte, war bereits so groß, dass sich Loke längst entschlossen hatte, ihn zu seinem Nachfolger zu ernennen, wenn die Zeit gekommen war.
»Ulv ist der Wiedergeborene, wie es Gamle vorausgesehen hat. Freut euch, meine Schüler, dass ihr das erleben dürft. Er hat das Gamlemesser zerbrochen, das über Generationen von Gamle zu Gamle vererbt worden ist. So hat er bewiesen, wer er wirklich ist. Doch es wird Jahrzehnte brauchen, bis er selbst es versteht.«
Bul runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Jahrzehnte? Das Volk der Großen fängt doch bereits nach fünfmal zehn Jahren zu schwächeln an, Loke. So viel Zeit hat er nicht…«
»Du weißt es nicht besser.« Loke schob seine kleinen Fäuste hinter seinen Gürtel. »Ulv ist der Wanderer, der nach einem Menschenalter zurückkommen wird. Er hat mehr Leben in sich als ein gewöhnlicher Mensch. Und vergesst nie, Schüler: Er ist es, der gegen Den, der die Lanze trägt, kämpfen wird.«
Die Frau trat aus dem Lichtschein und verschwand im Dunkel der Nacht. Die Waldgeister kauerten sich wieder an der Glut zusammen, und Loke schlug die Wollgrasdecke um sich.
»Lasst uns schlafen«, hustete er. »Es wird eine schwere Nacht für Brans Volk.«
Die Lehrlinge folgten seinem Vorbild. Sie rollten sich mit ihren bärtigen Köpfen auf den Säcken zusammen, und während die Glut blinkend erstarb, schliefen Bile, Vile und Bul ein. Loke lag noch lange wach, denn er musste über so vieles nachdenken. Er spürte die Angst im Volk der Großen. Doch so, dachte er, war es ja immer gewesen. Niemand, nicht einmal die Götter, leben ewig. Und am Ende verspüren wir nur Trauer. Loke drehte sich auf den Rücken, faltete die Hände über seinem Bart und betrachtete die Sterne, die auf den Strand herabschienen. »Kraggs Juwelen« nannten Bran und sein Volk sie. Das Dunkel der Nacht kam, wenn der Himmelsvogel seine Schwingen unter dem Himmel ausbreitete. So erklärten sie das Ganze, und Loke dachte, dass dieser Glaube auch nicht schlechter war als all die anderen. Nur die Götter, diejenigen, die einmal aus Wald, Bergen und Meer geboren worden waren, kannten die wirkliche Wahrheit. Auf der Wanderung durch das Landesinnere hatte er oft daran denken müssen. Wenn die Abende lang und kalt wurden und die Lehrlinge, erschöpft von den Anstrengungen des Tages, schliefen, schloss er die Augen und sah seinen Häuptling vor sich. Gamle war ein guter Name für den
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