Das Verheissene Land
nebeneinander, um die Wärme zu teilen. Er merkte, wie sein Bruder unter dem Fell zitterte. Aber sie waren es beide gewohnt zu frieren. Die Kälte machte ihn schläfrig und lockte Bilder hervor, die er nicht sehen konnte, wenn er wach war. Und der Schlaf führte ihn fort von dem Schmerz, der in seinem Nacken brannte. Er trug ihn zu dem schwarzen Himmel. Dort flog er wie ein Rabe über das Tal. Seine Flügel strichen über die nackten Baumkronen. Er spürte den Wind unter den Schwingen. Er hob ihn empor und trug ihn wie auf unsichtbaren Händen. Er öffnete den schwarzen Schnabel und stieß einen Schrei aus, der über das ganze Tal hallte. Unter ihm öffnete sich eine Lichtung. Er konnte seinen Bruder dort unten sehen. Und er sah Hagdar und Kaer, Virga und alle anderen. Aber er flog weiter gen Westen; bald hatte er das Tal hinter sich gelassen. Die Bergspitzen kratzten an seinem Bauch entlang, und der Gesang des Windes trug ihn mit sich fort über die ewigen Ebenen. Er drehte um und flog in einem Bogen zurück zum Gebirge. Aber das Gebirge war zu hoch und seine Flügel waren erschöpft. Da ließ er sich vom Wind weiter nach Westen tragen. Er schwebte über einen Abgrund. Die Hämmer der Schmiede sangen im Wind. Unter ihm breitete sich das Meer aus. Und wieder stieß er einen Schrei aus. Er schlug mit den Flügeln und glitt über die Wellen, roch die salzige See. Er hörte die unzähligen Stimmen der Wellen. Jetzt segelte er. Er stand allein auf dem Langschiff, das Steuerruder lag schwer und sicher in seiner Hand. Er lenkte das Schiff übers Meer. Und er wusste, dass er zu Hause angekommen war.
Bran schreckte aus dem Schlaf hoch. Dielan stand mit dem Speer in der einen und dem Fell in der anderen Hand vor ihm.
»Es ist Morgen.« Dielan schüttelte den Schnee aus dem Fell. »Wir müssen weiter, Bruder.«
Bran rieb sich die Augen. Er erinnerte sich, dass er geträumt hatte. Er hatte das Meer gesehen. Er war gesegelt. Das war eigenartig, schließlich hatten sie jetzt das Tal erreicht. Er brauchte nicht mehr zu träumen.
»Hast du das gehört?« Virga stand auf der anderen Seite der Feuerstelle, die unter einer dicken Schneeschicht begraben war. Es schien viel Schnee gefallen zu sein im Laufe der Nacht, denn der ganze Lagerplatz war von Neuschnee bedeckt. Dielan reichte er bis über die Wade, und Virga verschwand bis übers Knie.
»Was meinst du?« Bran kam mühsam auf die Beine. »Ich hab nichts gehört. Ich habe fest geschlafen.«
»Ein Brüllen.« Dielan zeigte mit dem Speer weiter ins Tal hinein. »Das Brüllen eines Hirsches. Wir sollten jetzt aufbrechen, wenn wir die Spuren finden wollen, bevor es wieder anfängt zu schneien.«
Bran blinzelte in den Himmel. Die dichte Wolkendecke hing tief über den Berggipfeln. Der Wind hatte sich gelegt. Es war wärmer geworden. Er spürte einen milden Zug in der Luft.
Die Männer begaben sich in den Eichenwald. Noch einmal hörten sie den Hirsch. Das laute Bellen verriet den Brüdern, dass es ein Männchen war, das seine Weibchen rief. Bran entsann sich an die Jagdausflüge mit seinem Vater und bereute es, aufgebrochen zu sein. Er hatte noch nie gern Hirsche erlegt.
Sie wanderten viele Pfeilschüsse zwischen den kahlen Eichenbäumen entlang. Der Schnee war hier wieder tiefer, und sie pflügten vorwärts, als bewegten sie sich durch hüfthohes Wasser. Dielan war sicher, dass die Hirsche sich weiter oben am Talhang aufhielten, weil der Schnee hier unten viel zu tief für sie war. Aber der Wald bot den Männern Schutz, damit die Tiere und Vögel sie nicht gleich bemerkten, und außerdem wehte ihnen der leichte Wind entgegen, so dass das Wild keine Witterung von ihnen bekam. Sie wollten sich im Wald an die Hirsche heranpirschen und vom Waldrand auf sie schießen.
Sie liefen weiter, bis der Boden anstieg. Da hörten sie Wasser plätschern und stießen ein paar Steinwürfe weiter oben an der Steigung auf einen Bachlauf. Die Eisschicht über dem fließenden Wasser war nicht geschlossen; sie zog sich wie ein ausgefranster Gürtel am Schneerand entlang und das Wasser plätscherte über Steine, die mit grünen Algen und Moos überzogen waren. Ein Schleier aus Raunebel schwebte über dem Bach.
Dielan führte sie die Steigung hinauf. Es herrschte absolute Stille. Selbst die Vögel, die eben noch auf der Jagd nach Larven und Samenkörnern zwitschernd zwischen den Ästen herumgeflogen waren, waren verstummt. Bran und Dielan nahmen die Bögen von der Schulter, denn ein Leben
Weitere Kostenlose Bücher