Das Verheissene Land
als Jäger hatte sie gelehrt, auf den Wald und die Berge zu lauschen. Die Stille verriet ihnen, dass ihre Beute nicht mehr weit war.
Die Steigung zog sich länger hin als erwartet. Es wurde immer steiler, bis der Wald sich plötzlich öffnete und einen kahlen Berghang freigab. Die drei Männer hängten die Bögen wieder über die Schulter, bliesen warmen Atem in ihre gewölbten Hände und kletterten zwischen den Steinen weiter nach oben.
Als sie endlich den Gipfel erreichten, stellten sie fest, dass sie auf einem Bergkamm gelandet waren. Vor ihnen fiel das Land in das nächste Tal ab. Dort unten wuchs ein dichter Birkenwald, und aus der Schneedecke ragten verstreut große Felsen oder Steinhaufen. Östlich von ihnen öffnete sich eine Schlucht zwischen den Bergen, und weiter im Norden wurde das Land von einer Klippe geteilt, die wie das Schwert eines Riesen zwischen die Birken gefahren war.
Bran zog die Kapuze über den Kopf, weil es anfing zu schneien. »Nimm Virga mit.« Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Geht ihr in den Birkenwald, ich gehe zum Eingang der Schlucht.«
Dielan nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an die Sehne. Virga tat das Gleiche. Dann machten sich die beiden an den Abstieg zum Birkenwald. Bran rückte die Fellrolle über dem Rücken zurecht, ehe er in östlicher Richtung den Bergkamm entlangging. Er vermutete, dass die Hirsche sich in höher gelegenes Gelände begeben hatten, wo der Schnee nicht so tief lag. Vielleicht waren sie in die Schlucht gegangen.
Während er durch den Schnee stapfte, dachte er daran, wie sein Vater ihn zum ersten Mal auf die Hirschjagd mitgenommen hatte. Der alte Febal hatte seine Söhne mit in das Gebirge über der Felsenburg genommen. Er hatte nichts zu essen mitgenommen, weil sie lernen sollten, was Hunger war. Sie wanderten fünf Tage durchs Hochland, und abends hörte Bran, wie Dielan sich in den Schlaf weinte, während sein Vater reglos in seinem dicken Schaffellumhang am Feuer saß.
Bran streckte den Rücken und ließ seinen Blick über das Birkental schweifen. Am siebten Tag stieß sein Vater auf frische Spuren. Er gab jedem seiner Söhne einen Bogen, ehe er selbst zwischen den Bäumen verschwand. Sie warteten einen halben Tag auf ihn. In der Dämmerung schließlich hörte Bran ein paar Zweige im Wald knacken. Etwas Großes brach zwischen den Bäumen hervor, mit einem Geweih so lang wie der Oberkörper eines erwachsenen Mannes. Der Hirsch sah ihn an und schnaubte. Und da hatte er den Pfeil abgeschossen und zum ersten Mal getötet.
Bran krümmte den Rücken und versuchte, die Erinnerung abzuschütteln. Er war damals noch ein Kind gewesen. Jetzt hatte er selbst eine Familie zu ernähren.
Plötzlich verschwand der Boden unter seinen Füßen. Bran riss die Arme nach vorn, schlug mit dem Knie auf den Boden und begrub Gesicht und Hände im Schnee. Er prustete und rappelte sich wieder auf. Er war direkt in eine Erdspalte getappt. Das durfte nicht passieren – er war auf der Jagd und sollte seine Gedanken nicht so schweifen lassen.
Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, klopfte er sich den Schnee von den Kleidern und legte den Pfeil wieder an die Sehne. Er hob den Kopf und spähte in die Schlucht, die jetzt vor ihm lag.
Und da entdeckte er sie. Die grauen Rücken verschmolzen fast mit dem schattigen Schnee unter der Felswand. Am oberen Ende des Berghangs hatte sich ein Rudel Wölfe um einen toten Hirsch geschart. Sie zerrten an dem braunen Fell. Einer von ihnen zog rote Därme aus der Bauchhöhle des Tieres.
Er nahm den Pfeil von der Sehne. Es war viele Jahre her, seit er die heiligen Tiere zuletzt gesehen hatte. Im Lanzengebirge hatte es nur wenig Wölfe gegeben, mehr als eine Hand voll Rudel hatten dort nicht gelebt. Er schüttelte den Kopf und schätzte den Abstand zu ihnen. Höchstens fünf Speerwürfe. Wenn sich die Wölfe nicht um die Beute streiten würden, hätten sie seine Witterung aufgenommen, noch ehe er den Bergkamm erreicht hätte.
Bran duckte sich und pirschte sich an die Wölfe heran. Es war ein großes Rudel. Die grauen Leiber drängten sich um den toten Hirsch. Einige hatten sich ein Stück Fleisch oder Eingeweide herausgerissen, die sie in dem blutigen Schnee verschlangen. Aus der offenen Bauchhöhle dampfte es. Der Hirsch war noch nicht lange tot.
Einen Pfeilschuss von dem Rudel entfernt legte Bran sich auf den Bauch und robbte weiter durch den Schnee. Vermutlich gab es dort, wo die Wölfe waren,
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