Das Verheissene Land
Turvi hinkte zum Feuer und schob ein Bündel Tang mit seiner Krücke in die Glut. »Lasst uns das nicht vergessen, Freunde! Wir kamen niemals hierher, um zu bleiben! Und ich frage euch: Wollten wir die Felsenburg nicht verlassen, als der Vogelmann uns gewarnt hatte? Führten wir unsere Schlitten nicht bereits mit Sehnsucht über die Felsenbrücke und zogen wir nicht voller Furcht durch das Land der Vokker? Und waren nicht Tod, Schmerz und Blut unsere Weggefährten auf der Reise zu diesem Ort der Sattheit und Gastfreundschaft?«
»Du sagst es doch selbst, Turvi! Blut und Tod! Meinst du nicht, dass wir genug davon erlebt haben?« Orm zog Niana an sich und schüttelte den Kopf.
»Aber ihr müsst verstehen. Freunde!« Turvi stütze sich auf seine Krücke und betrachtete die Menschen, die um das Feuer herumstanden. »Der Schmerz brachte uns an diesen Ort und der Schmerz wird uns weiterführen. Das ist der Wille der Götter. Erst so werden wir zu Männern und Frauen. Zu einem Volk. Doch lasst mich jetzt schweigen, denn ich bin ein alter, müder Mann. Hört, was Bran zu sagen hat, denn nur unser Häuptling kann das entscheiden.«
Bran hatte das Gespräch nicht richtig verfolgt, denn es waren so viele, verwirrende Worte. Er wusste bereits, dass er nicht in Tirga bleiben konnte, und das Meer rief ihn mit jedem Tag lauter. Doch er hatte ihr versprochen zu warten.
»Wir werden aufs Meer hinaussegeln«, sagte er. »Aber die Zeit ist noch nicht gekommen.«
»Aber wir werden den ganzen Sommer für diese Reise benötigen, Bruder!« Dielan trat zu ihm vor, als wollte er, dass die anderen das nicht hörten. »Was, wenn wir das Land nicht vor den Herbststürmen erreichen?«
Bran wandte den Blick zum Himmel, doch der Mond lag hinter den dicken Wolken verborgen. »Das Langschiff ist klar. Noch vor Neumond werde ich euch sagen, wann wir aufbrechen.«
»Der Häuptling hat gesprochen!« Turvi ballte die Faust über seinem Kopf. »Wir werden wieder aufs Meer hinausziehen, und wir werden das Land finden, in dem Kragg auf uns wartet. Geht zurück zu euren Zelten und schlaft, bis uns die Sonne für einen neuen Tag weckt!«
Mit diesen Worten humpelte der Einbeinige von der Feuerstelle weg. Das Felsenvolk stand still da und sah ihm nach, ehe sie die Köpfe zusammensteckten und leise zu murmeln begannen. Bran las den Zweifel in ihren Blicken. Orm wiegte unzufrieden den Kopf hin und her, und Nosser strich sich nachdenklich über den grau melierten Bart, während er mit schmalen Augen über das Meer schaute. Bran wusste, dass er ihnen jetzt etwas hätte sagen sollen: Worte, die Sicherheit gaben, und Worte über das Land auf der anderen Seite des Sturmrandes. Doch seine Gefühle gaben ihm diese Worte nicht. Der Wind packte die Flammen und riss die Feuerzungen in die Nacht empor. Er schlug den Umhang enger um sich. Velar stand auf der anderen Seite des Feuers am Rand des Lichtscheins. Bran hob den Kopf und versuchte, seinen Blick zu erhaschen, doch der blonde Mann drehte ihm den Rücken zu und verschwand im Dunkeln.
»Es ist spät geworden.« Kai nahm seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zum Zelt zurück. Ken und Narie folgten seinem Vorbild, und bald standen nur noch Bran und Hagdar am Feuer.
»Lass uns zum Kai gehen«, sagte Hagdar. »Du hast mir dein Schiff noch immer nicht gezeigt.«
Bran sah zu dem Zelt am Ende des Lagers.
»Sie schläft. Komm jetzt.« Hagdar befestigte die Klammer des Umhangs vor seiner Brust und winkte Bran, ihm zu folgen.
Die zwei Männer schlenderten über die schmale Straße, die zur Kaimauer am Ostende des Hafens führte. Bei den Reusen bogen sie nach links ab und folgten der Kaimauer bis zum Hafenplatz. Ein Fischer, der in seinem offenen Kahn saß und ein Netz flickte, zuckte zusammen, als Bran und Hagdar vorbeigingen. Hagdar amüsierte sich darüber, und Bran lächelte. Sie waren als Jäger aufgewachsen und selbst hier, auf der gepflasterten Kaimauer, bewegten sie sich lautlos. Der Fischer hatte sie, vertieft in seine Arbeit, nicht kommen gehört.
Sie gingen zwischen Tonnen und Taurollen hindurch auf den Hafenplatz. Bald würden die Händler hier ihre Buden errichten, doch überall lagen bereits Ruder, Segel und mannshohe Wassertonnen. Die Langschiffe knackten in ihren Vertäuungen und die Kohlelampen erhellten die grauen, abgenutzten Decksplanken. Bran sah Hagdar an, als sie am zwölften Langschiff vorbeigingen. Der große Mann streckte den Arm aus und legte seine Hand an die Schiffsplanken. Das
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