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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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zu entziffern. Er wusste mittlerweile, dass diese Seiten den Norden, Süden und Osten darstellten. Doch die Westseite war unbeschrieben, und das beunruhigte ihn. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die undeutlichen Markierungen und murmelte vor sich hin. Nach dem Kampf an der Felsenbrücke hatte der Vogelmann ihn lesen und schreiben gelehrt. Der alte Noj hatte Karain darum gebeten, denn mit nur einem Bein konnte Turvi nie wieder mit den anderen in den Bergen jagen. Bei diesem Gedanken schloss Turvi die Augen. Er legte seine Hand aufs Knie und holte tief Luft. Der Vogelmann hatte ihn die Schrift und die Weisheit gelehrt, das Geheimnis der Zeichen. Und bald musste er einen anderen finden, der diese Fähigkeiten hatte, und ihn in die Geheimnisse einweihen. Er hatte sich immer vorgestellt, dass Nojs Nachfolger der nächste sein würde, der die Kunst des Lesens beherrschte, doch Bran hatte keinen Sinn dafür. Er war Jäger, Krieger und Seemann; der richtige Häuptling in diesen Zeiten. Doch er hatte kein Verständnis für die Weisheit der Zeichen.
    Das Schiff kippte zur Seite und die Karten rollten nach steuerbord und fielen vom Tisch. Als sich das Schiff wieder aufrichtete, rollten sie zurück und verschwanden unter dem Kartentisch. Der Einbeinige kroch hinterher. Der Tisch war über einer Reihe von Balken errichtet worden, in deren Zwischenräumen die meisten der Pergamente hängen geblieben waren. Turvi sammelte sie ein und schob sie wieder in sein Hemd. Die Wellen gingen jetzt höher, er hörte sie an den Bug klatschen. Bran hatte ihn vor dem Meer hier im Westen gewarnt und gesagt, dass die Reise bis jetzt ungewöhnlich ruhig verlaufen sei.
    »Dreckige Pferdeschlächter!«, fluchte Turvi und streckte sich nach der letzten Karte aus. Er fluchte nur, wenn er wusste, dass ihn niemand hörte, doch dann gefiel es ihm, über die Pferde fressenden Vokker zu schimpfen. Nachdem er auch die letzte Karte in seinem Hemd verstaut hatte, legte er sich auf den Rücken. Er blieb liegen und atmete aus, während das Schiff auf und ab wogte. Seine Krücke war am Querbalken zu Boden gefallen, und er konnte sie mit den Armen nicht erreichen. Doch als die nächste Welle gegen den Bug schlug, drehte er sich auf den Bauch. Er bekam die Krücke mit dem anderen Arm zu fassen, so dass er sich wieder aufrichten konnte. Die Krücke unter den Arm geschoben, legte er die Karten wieder auf den Tisch, entrollte sie und beugte sich über sie.
    »Im Osten…« Er fuhr mit den Fingern über die Zeichen am Rand des braunen Pergaments. »Unendliche Ebenen.« Er glitt mit dem Finger am Rand des Meeres entlang. »Die Ebenen im Osten. Ost-Tuur. Der Blutsund. Kajmen.« Dann strich er mit dem kleinen Finger über einen Punkt am Nordende des Meeres. »Krugant«, murmelte er. »Krugant, Karains Geburtsstadt. Und wir lebten hier, beim Lanzengebirge…«
    Der Bug wurde nach oben gedrückt. Turvi griff nach einem der Deckentaue, doch sein Bein gab nach. Er wurde an die Schiffsseite geworfen. Etwas knackte, und er biss die Zähne zusammen und wartete auf den Schmerz. Doch es kam kein Schmerz. Er öffnete die Augen und erkannte, dass er wie ein geschlachtetes Schaf mit dem Rücken auf dem Querbalken lag. Er klammerte sich am Holz fest und strampelte mit seinem einen Bein. Erneut spürte er etwas unter seiner Hüfte und wieder fürchtete er, einer seiner alten Knochen könnte gebrochen sein.
    »Kragg«, betete er. »Lass mich mein Volk begleiten. Mach mich nicht noch schwächer, als ich es schon bin.« Dann fuhr er mit der Hand an der Seite seines Körpers hinab und plötzlich spürte er das abgenutzte Leder. Er lag auf der Krücke. Er kroch weg und lehnte sich mit dem Rücken an die Schiffswand. Dann legte er sich die Krücke auf den Schoß.
    »Bei aller Dummheit der Vokker…« Turvi starrte auf seine Krücke. Sie war in der Mitte gebrochen.
    Er wog den Kopf hin und her. Viele Jahre hatte sie ihn gestützt. Noj hatte sie aus einer Gebirgsbirke geschnitzt, die er in dem Frühling gefällt hatte, in dem Lillevord geboren worden war. Sie hatte ihm sein fehlendes Bein ersetzt, und wer sollte ihm hier draußen eine neue schnitzen, wo sie ohnehin schon kaum genug Brennmaterial hatten? Turvi zerbrach die Krücke vollends und riss die Teile auseinander. Dann schleuderte er sie gegen den Tisch. Er ließ die Arme hängen und beschloss, hier sitzen zu bleiben, bis Eyna erwachte. Sie würde ihm aufhelfen und dann konnte er die zerbrochene Krücke mitnehmen und aufs Morgenfeuer

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