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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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legen.
    In diesem Moment wurde das Schiff wieder nach oben geworfen. Eine Astwurzel rollte aus dem Schatten des Tisches hervor. Sie kullerte über die Schwelle bis in seine Hand und Turvi legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. Das kleine, runde Holzstück war vermutlich aus einem Astloch gefallen. Es musste sich gelöst haben, als er die Krücke gegen den Tisch geschleudert hatte. Er drehte sich auf die Seite und kroch vorsichtig über die Schwelle. Seine alten Augen sahen schlecht im Dunkel unter dem Tisch, doch er tastete sich zwischen den Balken hindurch und fand schließlich das kleine Loch unmittelbar über den hölzernen Verankerungen. Er wollte die Astwurzel wieder an ihren Platz stecken, als er es sich anders überlegte und den Zeigefinger ins Loch steckte. Als kleiner Junge hatte er einmal Katzensilber in einem Astloch versteckt, und wahrscheinlich lag es noch heute dort.
    Turvi zog die Augenbrauen zusammen. Das Loch war tief. Es weitete sich nach innen. Er legte sich auf die Seite und schob seinen Zeigefinger so weit wie nur möglich hinein. Dort drinnen lag etwas, das sich wie Leder anfühlte. Turvi riss einen dicken Splitter von der zerbrochenen Krücke. Er bekam damit das Leder zu fassen, und als er es herauszog, erkannte er, dass er ein weiteres Pergament gefunden hatte. Er schluckte und kroch zur Schiffsseite zurück. Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er es entrollte.
    Die Karte sah anders aus als die anderen. Das Pergament bestand aus einer gegerbten Fischhaut, auf deren Rückseite noch immer Reste von Schuppen zu erkennen waren. Die Striche auf dieser Karte hatten nicht die Formen der Länder und Meere, die auf all den anderen Pergamenten eingezeichnet waren. Auch die Ränder der Karte waren anders, sie trugen keine Schriftzeichen. Doch Zeichen waren auf der Karte, viele Zeichen. Sie waren mit Blut und Kohle aufgemalt und ganz anders als diejenigen, die er kannte. Die Schriftzeichen der Handelssprache bestanden aus Strichen, Kreuzen und Bögen, doch diese hier sahen eher aus wie kleine Zeichnungen. An manchen Orten fanden sich Zeichen, die wie Fische aussahen, andernorts Schlangen. Seeschlangen, dachte er, und drehte die Karte um. Da fiel ein weiterer Lederlappen in seinen Schoß, der in der Fischhaut eingerollt gewesen sein musste. Er hielt ihn ins Licht. Dies war keine Karte, hier hatte jemand etwas in der Handelssprache aufgeschrieben.
    »Ich, Blutskalle…« Turvi erinnerte sich, was Bran über Blutskalle erzählt hatte, den Skerg, der diesem Schiff den Namen seiner verschollenen Frau gegeben hatte. Bran fand sie im Lande der Vandarer und brachte sie zurück zu dem alten Skerg nach Arborg. Aber Blutskalle, der sein ganzes Leben nach Tigam gesucht hatte, war mit tödlichen Wunden aus dem Krieg zurückgekehrt. Turvi warf einen Blick auf die Decke, die den kleinen Bugraum vom Schiffsraum abtrennte. Als er nichts von den Schlafenden dort hinten hörte, beugte er sich wieder über den kleinen Lederfetzen.
    »Ich, Blutskalle, überlasse diese Karte und ihre Geheimnisse demjenigen, der nach mir mein Schiff besitzen wird. Möge es mit Cernunnos’ Willen ein Arer sein.«
    Hier folgte eine Unterbrechung, als ob der alte Skerg die Feder vom Pergament genommen und in das Tierblut getaucht hätte, während er nach den nächsten Worten suchte.
    »Drei Nächte nach dem zweiten Sommervollmond, im fünfunddreißigsten Jahr meines Lebens, war meine Flotte bei Flaute durch die Strömungen in den Nordwesten von Torman getrieben. Die Männer fürchteten den Sturmrand und hielten im Westen nach blutroten Wellen Ausschau. Doch in der Nacht gerieten wir an einen Ort, an dem sich die Strömungen teilten, und am nächsten Morgen trieb ein Wrack aus dem Nebel im Westen. Der Mast war gebrochen. Wir fanden niemanden an Bord. Keine Reichtümer, keine Zeichen. Doch ich fand diese Karte und nahm sie an mich.«
    Turvi drehte den Lederfetzen um. Die Zeichen gingen auf der anderen Seite weiter.
    »Sie ist auf Mansarisch geschrieben. Ich habe meine mansarschen Gefangenen mit Feuer und Eisen gefoltert, doch sie wollten mir die Zeichen nicht erklären. Vielleicht konnten sie es nicht. Doch ein Wort gaben sie mir: Kin-Mar. Sie schrien es unter Schmerzen heraus, wieder und wieder.
    Cernunnos, vergib mir, wenn ich dich jetzt mit meinen eigenen Worten verhöhne: Aber ich glaube, dass das Wrack von der anderen Seite des Sturmrandes kam. Die Karte stammt aus einer anderen Welt…«
    Turvi faltete den Lederfetzen zusammen

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