Das verletzte Gesicht
von einer Unschuld sprachen, auf die Männer wie der Kerl neben ihr abfuhren.
Michael atmete langsam aus und versuchte das nagende Schuldgefühl loszuwerden. Sie hatte seine Einmischung abgelehnt. Heutzutage wussten Frauen, was sie wollten, und legten keinen Wert auf unverlangte ritterliche Gesten.
„Keine gute Tat bleibt ungestraft“, raunte er spöttisch vor sich hin, schloss in Gedanken den Fall ab und schob die Glastüren auf.
Der eisige Wind vom Michigan See nahm ihm den Atem und wehte sein Haar zurück.
„Verdammtes Wetter“, fluchte er leise. Chicago hieß nicht umsonst die windige Stadt. So nah am See waren die Böen stark genug, auch einen großen Mann wie ihn umzuwerfen. Er würde sich nie daran gewöhnen. Die Schultern eingezogen, schlug er den Mantelkragen hoch, schob die Hände in die Taschen und gesellte sich zu den Passanten, die töricht genug waren, in dieser arktischen Nacht den Bürgersteig zu bevölkern. Er dachte an das milde Klima Kaliforniens und ertastete den Umschlag in seiner Tasche.
Michael beschleunigte die Schritte zur Michigan Avenue, wo er mit Glück und einem schrillen Pfiff vielleicht ein Taxi ergatterte. Er kam gerade vom Hochzeitsempfang eines Kollegen. Frank und seine Braut waren sehr glücklich gewesen und absolut sicher, den Rest des Lebens miteinander verbringen zu wollen. Ihr Glück hinterließ ein Gefühl der Leere bei ihm und machte ihm klar, dass seinem Leben etwas fehlte. Als ihn der Wind erneut peitschte, beschäftigte ihn ein anderes Problem.
Heute Morgen hatte er einen Brief seines Vaters erhalten. Er hatte ihn mitgenommen und mehrfach gelesen. Sein Vater hatte ihm im ganzen Leben vielleicht drei Briefe geschrieben. Briefe der Familie stammten in der Regel von seiner Mutter. Ihr Englisch war besser, und sie schloss stets freundlich die Ansichten seines Vaters mit ein. „Dein Vater und ich sind stolz auf deine guten schulischen Leistungen … Dein Vater grüßt dich herzlich … Dein Vater und ich fragen uns, warum du nicht öfter heimkommst.“
Luis, sein Vater, griff so gut wie nie zur Feder. Das nahm er ihm nicht übel. Wer den ganzen Tag hart gearbeitet hatte, setzte sich abends nicht hin, um mit schwieligen Händen zu schreiben.
Den ersten Brief von Luis hatte er erhalten, als sein Aufsatz über die Verfassung in einer örtlichen Zeitung veröffentlicht worden war. Den zweiten zum Abschluss seines Studiums an der University of California. „Ein Hochschulabsolvent!“ hatte seine Mutter stolz verkündet und sich geplustert wie eine Henne. „Der Erste aus der Familie.“ Seine ganze umfangreiche Verwandtschaft hatte sich zu einer lauten Fiesta eingefunden und singend und lachend gefeiert. Die argwöhnischen Blicke der „Gringos“ aus der Nachbarschaft wurmten ihn noch heute. Und nun das hier. In seinem dritten Brief beorderte sein Vater ihn nach Hause zurück.
„Meine Hände“, hatte er geschrieben, „sie werden schlechter. Sie mir nicht mehr so gehorchen. Und die Kunden, sie sind nicht glücklich. So viele junge Männer kommen mit neuen Ideen. Ha, die wissen nichts vom Boden und von den Pflanzen. Aber sie malen schöne Bilder für
los gringos
, die noch weniger wissen als sie. Ich brauche dich jetzt“, schrieb er weiter und unterstrich das letzte Wort. „Du musst helfen der Familie. Du kannst zeichnen die Entwürfe. Du kannst gut Englisch reden. Aber vor allem kennst du den Boden. Ich brauche dich. Miguel, mein Sohn.“
Michael fröstelte.
Mi padre
. Er liebte seinen Vater, und er vermisste ihn. Doch sein Vater bat um nicht weniger, als dass er seine Karriere als Architekt aufgab und in den Gartenbaubetrieb einstieg, den er vor dreißig Jahren gegründet hatte. Er bat darum, dass er zu seinen Wurzeln zurückkehrte.
Wurzeln? Schwarze Erde unter den Nägeln? Was sollte er mit seinen Wurzeln? Er war Architekt. Er baute Wolkenkratzer.
Madre de Dios
. Er baute sie hinauf in den Himmel, weit vom Boden entfernt. Hatte er nicht gerade deshalb Kalifornien verlassen, weil er seine Wurzeln kappen wollte? Weil er mit der Kultur brechen wollte, die ihn dort festhielt?
Michael lachte leise. Was für ein Narr er war. Solche Wurzeln konnte man nicht kappen. Er wusste das. Den Wurzeln seiner Familie entkam man nicht, sie hielten zu fest. So sehr er sich auch bemühte, es zu leugnen, er war Mexikaner, mehr noch ein mexikanischer Mann. Das bedeutete
machismo
. Das wiederum hieß, keine Schwäche zeigen.
Machismo
verlangte aber auch, dass er seinen Vater und
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