Das verletzte Gesicht
seine Familie ehrte.
Die Praxis von Dr. Jacob Harmon war so beeindruckend wie sein Ruf. Sein Wartezimmer verströmte die kühle Eleganz von Kristall. Charlotte wagte nicht, etwas anzurühren. Nur mit den Augen nahm sie alles auf: die gläsernen Briefbeschwerer in einem Korb, die hübsche Gobelinpolsterung und den duftenden, silbrigen Eukalyptuskranz über der Tür. Selbst die Bilder an den Wänden waren Originale, nicht die billigen Kunstdrucke und sich wellenden Poster wie bei McNally und Kopp. Sie hatte das Gefühl, hier richtig zu sein.
Hände an die Schenkel gepresst, wagte sie nicht mal, eines der ordentlich ausgerichteten Magazine aus seiner Plastikschutzhülle zu nehmen. Ihr schäbiger blauer Wollmantel an der Garderobe bildete einen starken Kontrast zu alledem. Es war ihr peinlich, ihn nur anzusehen.
„Miss Godowski? Kommen Sie bitte hier entlang.“
Die bildhübsche Schwester führte sie in einen kleinen blassrosa Untersuchungsraum und nahm gründlich ihre medizinische Vorgeschichte auf. Dann wurde sie über den taubenblauen Teppich in Dr. Harmons Büro geleitet, wo sie wartend schmorte. Glas und schimmernder Chrom wirkten ziemlich kalt und reflektierten hoffentlich nicht die Persönlichkeit des Arztes. Charlotte wurde zunehmend nervöser. Ob sie für einen Eingriff geeignet war, hing ebenso von einem psychologischen Test ab wie von ihrem Gesundheitszustand. Sie wollte diesen Eingriff jedoch unbedingt vornehmen lassen.
Nach schier endloser Wartezeit ging die Tür auf, und Dr. Harmon eilte mit wehendem Kittel herein, gefolgt von einer weiteren makellos hübschen Schwester. Charlotte war verblüfft. Der Doktor sah aus wie ein Junge. Er war klein und zart mit erstaunlich glatter Haut für einen erwachsenen Mann. Wie alt mochte er sein? Noch wichtiger, wie viele Operationen hatte er bereits durchgeführt?
Dr. Harmon warf ihr im Vorbeigehen einen raschen, durchdringenden Blick zu und setzte sich hinter seinen riesigen Schreibtisch, was ihn noch zwergenhafter machte. Die aufmerksame Schwester himmelte ihn geradezu an, als sie ihm mit kokettem Lächeln die Patientenkarte reichte. Dann ging sie, ohne Charlotte auch nur eines Blickes zu würdigen.
Charlottes Herz schlug schneller. Sie sank tiefer in ihren Sitz und blickte Dr. Harmon skeptisch an. Er schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken, lehnte sich in seinem Sessel zurück, vertiefte sich in die Patientenkartei und blätterte mit raschen, präzisen Bewegungen die Seiten um.
Schließlich senkte er die Kartei und sah sie an. Sein forschender Blick glitt über Augen, Nase, Lippen zu ihrem merkwürdigen Kinn. Diese Musterung hatte nichts Unangenehmes, da sie mit dem nüchternen Blick des Mediziners geschah.
Plötzlich änderte sich sein Mienenspiel, und er lächelte freundlich. Charlotte straffte sich und wusste, dass die Befragung begann.
„Guten Morgen, Miss …“ Er sah auf die Kartei.
„Godowski.“
„Ja, natürlich. Danke, Miss Godowski. Sie scheinen allgemein in guter gesundheitlicher Verfassung zu sein. Ich werde Sie noch genau untersuchen, erwarte jedoch keine Probleme.“ Er sah sie wieder wohlwollend an. „Ich schlage vor, Sie erzählen mir, wie ich Ihnen helfen soll.“ Dr. Harmon faltete seine Hände auf dem Tisch und sah sie erwartungsvoll an.
Beim Betrachten seines glatten Babygesichtes fragte sie sich, ob ihm jemals Barthaare wuchsen. „Ich …“, stammelte sie und wandte, nach Worten suchend, den Blick ab. „Ich denke, das ist offensichtlich.“
Der Doktor lächelte schwach.
Sie faltete die Hände im Schoß. Was konnte sie ihm sagen, das er nicht selbst sah? Er neigte abwartend den Kopf zur Seite, und Charlotte stieß hervor: „Ich möchte hübsch sein!“
Er zog die Stirn kraus und schürzte die Lippen. „Verstehe.“
Charlotte errötete. Natürlich verstand er und hielt sie wahrscheinlich für überdreht. Unsicher rückte sie sich im Sessel zurecht und zupfte an ihrem Kleid. „Vielleicht nur ein wenig hübscher“, schwächte sie ihren Wunsch ab und hörte ihre Mutter sagen: „Wir werden dich hübsch machen, ja?“
Dr. Harmons Miene verriet Mitgefühl. „Vielleicht. Das ist vielleicht möglich.“ Er studierte ihr Gesicht und fuhr fort: „Ich könnte Ihnen einige Änderungen vorschlagen, aber ich möchte zuerst Ihre Vorschläge hören. Was genau möchten Sie verändert haben?“
Charlotte atmete tief durch. Hatte sie richtig verstanden? Er hatte nicht gelacht. Er hatte auch nicht gesagt, das sei unmöglich, sondern
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