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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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ihre Haut zu brennen. Dr. Harmon begutachtete ihr Gesicht und betastete es zuversichtlich. Jede Berührung stach. Damit fertig, nahm er ihr Gesicht zwischen seine zarten Hände und sah ihr in die Augen. Die Zeit schien stillzustehen, während sie in seiner Mimik nach Hinweisen auf Begeisterung oder Besorgnis suchte. Doch seine Miene war undurchdringlich.
    „Sind Sie bereit?“ fragte er väterlich.
    Sie konnte nicht sprechen. Vorsichtig betastete sie das zarte Fleisch an ihrem Kinn. Es fühlte sich aufgeschwemmt und geschwollen an. Trotzdem spürte sie eine schön geschwungene Linie.
    Sie schaute Helena an, auf ihre Reaktion gespannt. Ihre Mutter betrachtete sie mit leicht verengten Augen, die Lippen bebten. Sie schien entsetzt.
    Charlotte schluckte trocken.
    „Spiegel!“ bat Dr. Harmon die Krankenschwester.
    Charlotte versuchte zu lächeln, konnte ihr geschwollenes Gesicht jedoch nicht dazu bringen. Tief durchatmend schaffte sie es, sich aufzurichten. Ihr wurde schwindelig und übel. Sie unterdrückte beides, denn sie wollte sitzen. Sie hatte das eigenartige Gefühl, eine wichtige neue Bekanntschaft zu machen.
    „Denken Sie daran, dass Ihr Gesicht noch geschwollen und blutunterlaufen ist. Das bleibt noch eine Weile. Aber nach und nach wird sich alles normalisieren.“
    Sie war alarmiert. Er klang angespannt. War etwas schief gegangen? Sie wollte sprechen, doch die Schnitte im Mund und die Schwellungen machten es schwer, die Lippen zu bewegen. „Normalisieren?“ murmelte sie.
    Ein Assistenzarzt erklärte: „Dr. Harmon hat es schön modelliert, aber es ist noch zu früh, das genaue Ergebnis zu sehen.“
    „Wie sehe ich aus?“
    „Warum schauen Sie nicht selbst?“ Dr. Harmon reichte ihr den Spiegel.
    Charlotte hielt ihn lange in der Hand und sammelte Mut. Den Spiegel schräg haltend, betrachtete sie zuerst Stirn und Augen, die unverändert waren. Langsam, zögerlich besah sie sich das ganze Gesicht.
    „Charlotte?“ Dr. Harmon kam näher. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
    Nein, nichts war in Ordnung. Sie hatte Angst. Langsam legte sie den Spiegel aufs Bett und schloss die Augen. Ihr war, als hätte sich der Geist vom Körper getrennt, wie manche Menschen eine Erfahrung in Todesnähe beschreiben. War sie in gewisser Weise gestorben? Eines stand fest: Die Charlotte, die sie gewesen war, gab es nicht mehr.
    Helena kauerte neben dem Bett ihrer Tochter, einen Rosenkranz in den Händen, die Lippen bewegten sich in leisem Gebet. Es war spät. Die Lichter in dem kahlen Krankenzimmer waren bis auf eine grünliche Notbeleuchtung gelöscht. Im Nebenzimmer stöhnte jemand, ein leiser Laut, der keine Schwester alarmierte, da sich alle eifrig auf den Schichtwechsel um elf vorbereiteten. Unheimliche Schatten entstanden an den Wänden, sobald jemand an der Tür vorbeiging. In 6 West herrschte nachts Einsamkeit. Jeder versuchte schlicht, die Nacht zu überstehen.
    Helena kehrte fröstelnd zu ihrem Gebet zurück. Sie hasste Krankenhäuser und würde lieber auf der Straße sterben, als in eines zu gehen. Vor dem Zimmer besprachen zwei Schwestern Charlottes Fall. Bandagen heute entfernt … Schwellung normal … Auf Verlangen Percodan gegen die Schmerzen. Nach den medizinischen Details wurde das Gespräch leiser und offenbar persönlich. Helena verzog ärgerlich den Mund. Zweifellos palaverten sie über Charlottes Veränderung. Auf den Fluren redete man von nichts anderem.
    Den Rücken zur Tür, beugte sie sich über Charlotte. Wo steckte in diesem Gesicht noch ihre Tochter? Sie ballte die Hände. Wer hatte das Recht, sie so zu verändern? Bestimmt nicht dieser aufgeblasene Dr. Harmon. Voller Schuldgefühle dachte sie an die Unterredung mit ihm vor dem Eingriff. Sie zuckte jetzt noch zusammen, wenn sie an seinen unverhohlenen Zorn dachte.
    „Warum haben Sie nicht eher einen chirurgischen Eingriff bei Charlotte vornehmen lassen?“ hatte er vorwurfsvoll gefragt. „Diese Techniken sind nicht neu. Es wäre ihr sicher erspart geblieben, jahrelang ge…“ Er winkte ab und suchte vergeblich nach einem treffenden Begriff für das, was Charlotte durchgemacht hatte.
    Sie war mit den üblichen Entschuldigungen gekommen: kein Geld, keine Versicherung, Unkenntnis. Dr. Harmon hatte nur den Kopf geschüttelt.
    „Ja, das stimmt alles“, sagte Helena ihrer schlafenden Tochter und legte ihr den Kopf auf die Hand. Doch der wahre Grund war ein anderer. Gott hatte von ihrer Sünde gewusst und sie mit der Deformierung ihrer Tochter

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