Das verletzte Gesicht
Unterlagen, ich mache die Entwürfe von Chicago aus.“
Luis lachte laut auf und legte seinem Sohn besitzergreifend einen Arm um die Schultern. „Wie ich kann untergehen?“ sagte er bewegt. „Ich kenne meine Erde, sie ist wie eine schöne, mollige Frau, fruchtbar und gut duftend. Du pflanzt den Samen, und sie tut das Ihre dazu. Und ich kenne meinen Sohn. Du kehrst nie Rücken deine Familie.“
Die Himmelfahrts-Kirche in Chicago war schön beleuchtet und hallte von den fröhlichen Gesängen der Gemeinde in der Mitternachtsmesse. Obwohl es überfüllt war, saßen Charlotte und Helena auf den reservierten Plätzen neben dem Altar. Ein Bonus, weil sie den ganzen Tag emsig gewesen waren, die Kirche zu schmücken. Stolz ließ Charlotte den Blick über das frische weiße, mit grüner Stickerei gesäumte Leinen und den im Licht glänzenden Blumenschmuck wandern. „Wunderschön“, seufzte sie.
Pater Frank zwinkerte ihnen vom Altar zustimmend zu.
Die ganze Zeit kreisten Charlottes Gedanken um Schönheit. Dr. Harmon hatte seine letzten Entwürfe vorgelegt, und sie war geradezu erschüttert gewesen von dem wunderschönen neuen Gesicht. „Ich kann nicht glauben, dass ich das sein werde“, hatte sie atemlos gesagt und auf die Bilder gestarrt.
„Glauben Sie es nur. Ich werde es machen.“
„Aber die Nase. Sie haben sie verändert. Das ist nicht meine.“
„Es wird Ihre sein.“
„Ich weiß nicht. Meiner Mutter wird das nicht gefallen, mich so verändert zu sehen.“
„Wie gefällt es Ihnen denn, Miss Godowski?“
Sie blickte auf den wunderbaren Schwung der Kinnlinie. „Ich liebe es.“ Dann legte sie ein Blatt Papier über das Gesicht, so dass nur die Augenpartie sichtbar blieb. „Ich bin es trotzdem noch.“
„Natürlich. Und wie klug von Ihnen, auf die Augen zu schauen, denn die zeigen Ihr wahres Ich.“
Vielleicht, dachte sie, und hatte dem Entwurf zugestimmt, ohne ihrer Mutter von der veränderten Nase zu erzählen. Ihr neues Gesicht war ihr Geschenk an sich selbst. Ihr Geschenk an ihre Mutter war ihr neuer Job. Dr. Harmon hatte ihr freundlicherweise die Stelle als Buchhalterin in seiner Praxis angeboten, zu einem anständigen Gehalt. Endlich musste Mutter sich keine Gedanken mehr um das Einkommen machen. Nach der Messe heute Nacht wollte sie ihr die Neuigkeit mitteilen.
Als der Chor das Lied „Joy to the World“ anstimmte, sang Charlotte aus vollem Herzen mit. Ihre Welt war voller Freude und Hoffnung.
5. KAPITEL
D rei Monate später entfernte Dr. Harmon methodisch die Bandagen um Charlottes Kopf, während sie reglos auf dem Krankenhausbett lag. Wie ein hoher Priester mit einer Mumie, dachte sie und blinzelte durch eine kleine freie Stelle. Eine Mumie, die zum Leben erwacht. Drei Männer und eine Frau Ende zwanzig in weißen Kitteln und mit Krankenblättern in den Händen, beugten sich vor, um ihr Gesicht zu betrachten. Es waren die Assistenzärzte in der Plastischen Chirurgie. Ihr Fall war besonders interessant, und in den letzten Wochen waren sie häufiger vorbeigekommen, sie zu untersuchen und immer dieselben Fragen zu stellen. Dr. Harmon hatte ihren Fall zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht, das merkte sie an den Reaktionen der Assistenten und Krankenschwestern. Im Flügel 6 West, wo Dr. Harmon seine Belegbetten hatte, fühlte sie sich wie eine Königin.
Zwei Wochen waren seit der Operation vergangen. Zwei Wochen heftiger Debatten mit ihrer Mutter, ob sie eine moralisch richtige Entscheidung getroffen hatte. Wochen, in denen sie gebetet hatte, die Operation möge gelingen, nicht sicher, ob sie noch beten durfte, da sie, wie Helena behauptete, Gottes Willen getrotzt hatte. Charlotte begehrte wieder innerlich auf. Sie war nicht so ein Opferlamm wie ihre Mutter. Für Helena war es leicht, ihre Entscheidung zu verdammen, schließlich hatte sie ein normal hübsches Gesicht.
Charlotte machte ihr jedoch keinen Vorwurf. Sie war allerdings über den Punkt hinaus, ihre Hässlichkeit als Gottes Willen zu akzeptieren. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Während die Bandagen weiter abgewickelt wurden, nahm sie den seltsamen Geruch von getrocknetem Blut auf den Nähten wahr. Befreit von allem Einengenden begann ihr Kinn zu pochen und die Nervenenden prickelten. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich vor Anspannung.
„Gleich haben wir es …“, sagte Dr. Harmon leise. Ihr schien es Ewigkeiten zu dauern, wie er vorsichtig die letzten Bandagen löste.
Plötzlich der Luft ausgesetzt, begann
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