Das verletzte Gesicht
sich vor. „Bitte, wenn Sie mir nur den Namen der Stadt in Amerika nennen könnten. Ich bin sicher, ich kann ihn dort finden. Bitte, Sie müssen mir glauben.“
Seine Mutter starrte lange ins Leere. Sie legte eine Hand an die Wange und wirkte wie erfroren. Als sie die Hand in den Schoß zurücklegte, war ihr Blick auf Helena und die Rundung ihres Leibes gerichtet.
„Ich glaube Ihnen“, erwiderte sie nachdenklich. „Und Sie müssen mir auch glauben. Ich weiß nur, dass er nach Chicago in Illinois gegangen ist, dort gibt es eine große polnische Gemeinde.“
„Vielleicht können Sie mir die Namen Ihrer Verwandten oder Freunde nennen. Jemand, an den ich mich wenden kann, wenn ich dort ankomme. Ich kenne niemanden in Amerika, und ich bin schon im fünften Monat.“
„Ich gebe Ihnen einen Einführungsbrief an eine Freundin mit. Sie wird Ihnen helfen. Und ich gebe Ihnen das Geld für den Flug.“ Sie räusperte sich. „Und genug für einen Neuanfang drüben.“
„Vielen, vielen Dank!“ Helena legte die Hände ans Gesicht und schluchzte vor Erleichterung. So viel hatte sie nicht erwartet.
„Danken Sie mir nicht. Sie kennen meinen Sohn nicht so gut wie ich.“ Seine Mutter schien zu schrumpfen, während sie weitersprach. „Fridrych ist selbstsüchtig. Vielleicht ist das meine Schuld. Ich habe ihn verwöhnt.“ Sie fingerte einen Moment an ihren Ohrringen und ließ die Hand mit einer vagen Geste sinken. „Falls Sie ihn finden“, fuhr sie zögernd fort, „machen Sie sich darauf gefasst, dass er nicht erfreut sein wird. Ich sage das nicht, um Sie zu verletzen, aber wissen Sie … Sie sind nicht die erste junge Frau, die er in diese Lage gebracht hat. Fridrych ist sehr zielstrebig, wenn er etwas haben möchte. Geradezu besessen. Und manchmal … grausam. Sein Vater kann auch so sein. Das andere Mädchen stammte auch aus einem Dorf, genau wie Sie.“
Helena senkte den Blick, um ihre Besorgnis zu verbergen.
„Er hat Ihren Namen nie erwähnt“, fuhr sie fort. „Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“
„Ich muss ihn finden“, antwortete Helena mit erstickter Stimme.
„Also gut. Ich werde alles Notwendige arrangieren. Nur noch eine Bedingung. Falls es Ihnen nicht gelingt, meinen Sohn zu finden, müssen Sie mir versprechen, Ihr Kind nicht mit dem Namen Walenski in Verbindung zu bringen.“
Der Affront nahm Helena den Atem. „Aber das Kind ist ein …“
„Ich muss darauf bestehen“, wurde sie unterbrochen.
Helena senkte den Kopf. „Ich verspreche es.“ Mit diesen geflüsterten Worten verschenkte sie das Erbe ihres Kindes.
Fridrychs Mutter hielt ihr Wort. Innerhalb eines Monats kam eine junge, hochschwangere Mrs. Helena Godowski in Chicago an. Sie lernte schnell, dass eine allein stehende Frau in einem fremden Land, noch dazu schwanger, keine Freunde hatte. So nahe am Geburtstermin und ohne Englischkenntnisse konnte sie mit ihrem Einführungsschreiben lediglich einen Job als Babysitter ergattern, der ihr genug für Essen und Unterkunft einbrachte. In jeder freien Minute suchte sie nach Fridrych und erbat die Hilfe der eng verknüpften polnischen Gemeinde. Ein Mann hatte ihn kurz nach seiner Ankunft gesehen, aber nichts mehr von ihm gehört. Man war allgemein der Ansicht, dass er die Stadt verlassen hatte.
Als die Wehen stärker wurden, war Helena klar, dass sie allein gebären musste, ohne Ehemann, ohne Mutter und ohne Freunde. Ihr Traum, Fridrych zu finden, war geplatzt. Sie musste ihr Schicksal allein schultern.
„Sprechen Sie Englisch?“ fragte die Schwester im Kreiskrankenhaus laut und deutlich.
„K-kein Englisch“, stammelte Helena mit vor Panik trockenem Mund.
Die Schwester verdrehte die Augen. „O Gott, ich habe hier eine Erstgebärende ohne Englischkenntnisse! Das kann heiter werden. Nur die Ruhe, Kleines. Ich passe gut auf Sie auf.“
Helena starrte auf die abblätternde Decke, während sie an Räumen voller stöhnender Frauen vorbeigerollt wurde. In einem kleinen grünlichen Zimmer stellte man sie ab, wo Frauen und Männer in Krankenhauskleidung ihr abwechselnd die Beine spreizten und mit kalten Fingern in sie eindrangen. Sie fühlte sich schrecklich allein und verletzlich, und sie hatte Angst. Aber sie musste stark sein für ihr Baby.
Der Schmerz kam in Wellen, schwoll im Bauch an und prallte gegen ihren unteren Rücken. Die Anzeige auf der seltsam piependen Apparatur neben ihr schlug rhythmisch aus. Sie begann zu schwitzen. Heilige Mutter Gottes, warum hatte ihr das
Weitere Kostenlose Bücher