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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, keine Fremde mehr für sie. Michaels Liebe hatte sie selbstsicher gemacht und mit sich in Einklang gebracht. Wenn sie heute in den Spiegel schaute, gefiel ihr das Gesicht, das sie sah. Es war das Gesicht, das Michael liebte.
    Er kam jeden Tag zu ihr. Meist werkelten sie ein wenig im Garten, bereiteten sich etwas zum Dinner, und er blieb bis spätnachts. Er war ein unersättlicher Liebhaber und zugleich ein unverbesserlicher Romantiker. Sie entdeckte, wie viel Sanftheit und Freundlichkeit in ihm steckte, was seine gewöhnlich strenge Miene und die zurückhaltende Art nicht gleich erkennen ließen. Vielleicht zeigt er diese Seiten aber auch nur wenigen auserwählten Menschen, überlegte sie oft, wenn sie ihm zusah, wie er professionell Gemüse putzte und dabei angeregt plauderte.
    Es reizte sie zum Lachen, was für ein Plappermaul Michael nach einer leidenschaftlichen Liebesumarmung sein konnte. Sie liebte ihn über alles, und eine Zukunft ohne ihn war unvorstellbar. Nie hätte sie für möglich gehalten, sich einem anderen Menschen einmal so nahe zu fühlen.
    Weshalb es immer belastender für sie wurde, ihn weiter anzulügen. Je mehr er sich ihr öffnete, desto mehr verschloss sie sich. Nach einer Liebesumarmung zog Michael sie gewöhnlich in die Arme, stopfte sich einige Kissen in den Rücken und erzählte aus seiner Kindheit, von seiner Familie und seinen Ansichten. In solchen Momenten, wenn sie sich einander am nächsten fühlten, spürte sie am deutlichsten den Abgrund, den ihre Lügen aufgetan hatten.
    Er erzählte, wie sein Vater Luis in einer sternenlosen Nacht durch den Fluss in die Staaten geschwommen war und eine Frau mit einem kleinen Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte. Er berichtete, wie er als Kind jeden Samstag von seiner Mutter mit einer Mixtur aus Eiweiß und Zitronensaft eingerieben worden war, in dem Versuch, seine dunkle Haut aufzuhellen. Zu ihrem Kummer schlug die Behandlung nicht an.
    Den Kopf auf seiner Brust, hörte sie ihn lachen, wenn er von seiner ungestümen Schwester Rosa sprach, die nur Hosen getragen hatte und nie Kochen oder Tanzen lernen wollte wie andere Mädchen. Sie war die Beste ihres Softball-Teams gewesen, liebte starken Kaffee und kubanische Zigarren, war ein Genie in Mathe und Naturwissenschaften und stärker als die meisten Männer, die er kannte. Sie hatte darum gekämpft, aufs College gehen zu dürfen. Doch ein Studium war für eine junge Mexikanerin, deren Lebensaufgabe immer noch darin bestand, eine Familie zu versorgen und Kinder aufzuziehen, undenkbar. Angeblich war es verschwendetes Geld. Also hatte Rosa gleich nach der High School ihren Manuel geheiratet und führte das Geschäft mit dem Vater. Als Charlotte nach Bobby fragte, wich Michael jedoch aus.
    Dafür erzählte er von den Jahren auf dem College. Er hatte vernünftige Ansichten zu Umweltverschmutzung, Politik und Religion. Doch Charlotte hielt mit ihrer Meinung zu diesen Themen ebenfalls nicht hinter dem Berg, und er war ein aufmerksamer Zuhörer. Sie war immer stolz auf ihren Intellekt gewesen, um den man sie beneidet hatte. Heute, da ihre Schönheit ihre Klugheit überflügelte, war sie dankbar für jeden anregenden Gedankenaustausch. Sie debattierten gern und hitzig miteinander. Und meistens endeten ihre Diskussionen in einer leidenschaftlichen Umarmung auf dem Bett.
    Wenn Michael sich nach ihrer Kindheit erkundigte, wehrte sie mit der Bemerkung ab, da gebe es nicht viel zu erzählen.
    Eines Nachts war sie schon sehr nah daran gewesen, ihm alles zu beichten: dass ihr Gesicht von einem Chirurgen geformt war und nicht von Gott, dass sie sich mit ihrer Mutter überworfen hatte und dass ihre Kindheit schwer und traurig gewesen war. Die Geschichte vom hässlichen Entlein war genau ihre Geschichte.
    Doch dann betonte Michael wieder, wie fasziniert er von ihrer Schönheit sei. Wie konnte sie ihm da die Wahrheit gestehen? Wie konnte sie sagen, dass ihr Gesicht nicht echt war?
    So blieben die Lügen bestehen, und je mehr Zeit verging, desto mehr verfing sie sich in ihnen.
    Das ging ihr durch den Kopf, als sie energisch in ihrem spätsommerlichen Garten grub. Morgen würde sie zu den Dreharbeiten für
Ein Tag im Herbst
nach Maine abreisen. Ihnen blieb nur noch der heutige Tag, bevor sie sich für Monate trennen mussten. Ihre Liebe war noch zu neu, um sie auf die Probe zu stellen. Sie würde Michael alles erzählen, wenn sie zurückkam.
    „Du solltest Handschuhe tragen,

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