Das verlorene Ich
Pünktchen hellen Lichtes zeichneten sich weit über Landers im Dunkel ab. Als er ihnen über die Leiter näherkam, sah er, daß sie kreisrund angeordnet waren. Und schließlich verwehrte ihm ein schwerer Metalldeckel den weiteren Weg. Nicht schwer genug jedoch, daß Landers ihn nicht hätte hochwuchten und zur Seite schieben können.
Ein Geräusch wie fernes Meeresrauschen drang zu ihm. Vermutlich Verkehrslärm, der nur gedämpft diesen Hinterhof erreichte. Überquellende Mülltonnen und aus rissigem Pflaster sprießendes Unkraut bestimmten das Bild. Ringsum wuchsen die Rückansichten fünf- bis sechsstöckiger Häuser auf.
All das registrierte Hector Landers nur nebenbei. Sein Hauptau-genmerk galt dem verquollenen Gesicht, das sich kaum zwei Handbreiten von ihm entfernt befand und aus dem ihm ein glasiges Augenpaar anstierte - sowie ein Wolke entgegenschlug, die kaum weniger schlimm stank als die Kloake, aus der er gerade gestiegen war.
»Mon dieu ...!« brabbelte der alterslose Kerl, der unmittelbar neben dem Kanalausstieg gepennt zu haben schien und den das Verschieben des Deckels geweckt haben mochte.
»Der Leibhaftige ...«, fuhr der Penner fort. »Es ist soweit ... Er kommt, um mich zu holen.«
Schweigend stieg Landers aus dem Kanalschacht. Für den anderen mochte es tatsächlich aussehen, als hätte die Unterwelt einen ihrer Dämonen entlassen, denn Landers stank wie die Pest, und die schwarze Kleidung unterstrich seine ohnedies schon düstere Erscheinung.
Der Gammler kroch zurück, so rasch wie es seine lahmen Reflexe zuließen. Landers stoppte ihn mit einem Tritt. Dann fragte er nach der Adresse, die Simone ihm genannt hatte. Lallend nannte der andere ihm den Weg dorthin.
»Merci«, sagte Landers. Seine Hand tauchte in seine Jacke, und der Penner brabbelte um Vergebung und Gnade, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Doch Landers warf ihm nur einen Geldschein hin. In solchem Wert, daß der andere vollends glauben mußte, das Endstadium des Delirium tremens erreicht zu haben .
Ohne ein weiteres Wort verließ Landers den Hinterhof und erreichte eine belebte Straße, so daß es ihm vorkam, als hätte er die Welt gewechselt. Im Westen ragte das metallene Skelett des Eiffelturmes über den Dächern auf.
Mit säuerlicher Miene registrierte Landers, wie Passanten einen Bogen um ihn schlugen, die Nase rümpfend und ihn mit ärgerlichen Blicken bedenkend. Doch kaum sahen sie ihm ins Gesicht, schienen sie es aus ganz anderem Grund eilig zu haben, von ihm fortzukommen.
Landers orientierte sich kurz, suchte nach den Nummern an den Häuserfassaden - im Vergleich zu der Gegend, die er zuvor aufgesucht hatte, schienen sie ihm geradezu luxuriös - und fand das Haus, von dem Simone gesprochen hatte. Es unterschied sich kaum von den anderen entlang der Straße, machte einen gepflegten Eindruck, und auf der polierten Metalltafel neben dem Eingang waren eine Reihe von Firmen aufgeführt, die hier ihren Sitz hatten oder Filialen unterhielten - Versicherungsunternehmen, eine Werbeagentur, zwei Facharztpraxen und -»- Landers Inc. Im- und Export«, las Hector Landers halblaut. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen. »Sieht aus, als wäre ich weltweit tätig«, meinte er dann zu sich selbst und trat ein.
Er war kaum durch das doppelflügelige Glasportal verschwunden, als nicht weit entfernt jemand nach einem Handytelefon griff und rasch eine Nummer wählte, die nur wenige Leute in Paris kannten.
*
Patrick Dupond hatte sich auf ein paar ruhige Stunden eingestellt. Auf dem Beifahrersitz türmten sich Papiertüten mit allerlei Gebäck, das er rasch noch besorgt hatte, dazu eine kleine Auswahl verschiedener Getränke.
Sehr viel angenehmer ließ Geld sich kaum verdienen. Denn es sah nicht danach aus, als würde er tätig werden müssen.
Der Boß selbst hatte gesagt, daß dieser Kerl, nach dem sie suchten, schon ein völliger Idiot sein müßte, wenn er tatsächlich hierher käme.
Nun, er war wohl ein völliger Idiot. Denn er war gekommen. Eben hatte Dupond den Mann drüben im Haus verschwinden sehen. Obwohl er ihn nicht kannte und nie ein Bild von ihm gesehen hatte, konnte er jeden Zweifel ausschließen. Die kreuzförmige Narbe auf der Wange des anderen unterschied ihn von vielleicht jedem anderen Menschen auf der Welt.
Giordan Vautier selbst meldete sich am Telefon.
»Er ist hier«, sagte Dupond nur.
Ein geradezu unheimliches Lachen war die Antwort. Dann: »Folge ihm, Dupond.«
»Soll ich ihn
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